Autor:in: Sarah Hulmes

Co-Abhängigkeit – Wenn Liebe und Nähe nicht gut tun

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Eigene Geschichte

Abhängigkeit, egal ob emotional oder von Suchtmitteln, war in meiner Familie schon immer ein Thema. Da möchte ich auch nicht darauf eingehen, denn ich war noch viel zu klein, um diese Co-Abhängigkeit zwischen anderen Familienmitgliedern zu sehen. Auch wenn sie sichtbar war.
Meine Geschichte fängt mit meiner Mutter an. Auch wenn es einigen Leuten nicht direkt bewusst ist, stellt die Co-Abhängigkeit ein psychisches Problem und eine ernstzunehmende Erkrankung dar, die unbehandelt schwerwiegende Folgen mit sich bringt.
Sie war alleinerziehend und wir standen uns sehr nahe. Als ich klein war, kam ich immer zu meiner Großmutter, die aufpasste, bis meine Mutter von der Arbeit kam. Aber früh kristallisierte sich heraus, dass ich eine enge Bindung zu meiner Mutter hatte. Vielleicht zu eng. Andere Kinder konnten es kaum erwarten, bei Großeltern oder ihren Freund:innen zu übernachten, während ich wieder nach Hause wollte. Den Absprung in die Eigenständigkeit schaffte ich nie. Zuhause war ich ja sicher, weil Mama da war und mir auch keine Grenzen aufzeigte oder mir den Tritt in den Hintern gab, den ich dringend gebraucht hätte.

Mit ungefähr 16 Jahren merkte ich, dass das Thema Alkohol bei ihr eine Rolle zu spielen schien. Die ersten Jahre war es Cola mit Weinbrand am Wochenende oder mal ein Bier. Doch dann verlor sie ihre jahrelange Anstellung. Das gab ihr den Rest und es wurde schlimmer. Anfangs kapierte ich das nicht mal. Ich war 18 Jahre alt und hatte andere Dinge im Kopf. Meine Patentante sprach mich eines Morgens an der Haltestelle an und sagte, dass einige Leute in der Maßnahme vom Arbeitsamt, die beide besuchten, sich beschwert hatten, dass meine Mutter nach Alkohol roch. Am nächsten Morgen wollte ich mir eine kleine Flasche Cola Light in den Rucksack packen, da ich oft eine mit zur Schule nahm. Meine Mutter sagte, dass ich eine andere nehmen sollte. Als ich fragte warum, sagte sie, dass in der, die ich in der Hand hielt, Alkohol wäre. Von da an wurde das Thema präsenter. Ich vernachlässigte die Schule, weil ich ständig Sorge hatte, dass meine Mutter sich volllaufen ließ. Das tat sie auch, wenn ich Zuhause war. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, mehr Kontrolle zu haben. Sie ging abends besoffen ins Bett und stand morgens besoffen auf. Ich hörte nachts wie sie sich übergab. Immer mehr blieb an mir hängen und ich machte es gern, denn immerhin war sie ja meine Mutter! Einkaufen, aufräumen, kochen und nach außen erzählen, dass Zuhause alles okay war, gehörten zu meinem Alltag. Ohne richtigen Abschluss und mit einem eigenen psychischen Problem, das ich nicht wahrhaben wollte, wurde ich praktisch ihre Betreuerin. Ich wurde angebrüllt oder bekam dumme Kommentare zum Essen. Nachts schlief ich mit Ohrstöpseln, damit ich nichts mitkriegte, auch wenn ich sie oft rausnahm, weil ich Angst hatte, dass sie an ihrem Erbrochenen ersticken könnte.

Wenn ich feiern wollte und Alkohol weglegte, war der schneller weg als ich gucken konnte. Ich bin froh, dass ich ein Umfeld hatte, das mich nicht so abstürzen ließ, denn eine Zeit lang war ich auch jedes Wochenende bis zum Erbrechen betrunken. In der Zeit fing es an, mir egal zu sein, was meine Mutter zuhause trieb. Meine beste Freundin und ich teilten uns ihre kleine Einzimmerwohnung und ein kleines Einzelbett. Alles war besser als zuhause zu sein und zuzusehen, wie meine Mutter sich kaputt machte. Irgendwann fing meine Patentante dann auch an zu bemerken, dass meine Mutter auf Feiern mehr trank als alle anderen und sprach mich nochmal darauf an. Ich brach in Tränen aus und sagte, dass ich es nicht mehr aushielt, aber Mama auch nicht alleine lassen konnte.

Prompt wurde ein Familienmeeting einberufen. Meine Großeltern und meine Tante redeten auf sie ein. Tatsächlich sah meine Mutter ein, dass sie ein Problem hatte, als ich unter Tränen sagte, dass ich es so nicht mehr aushielt. Sie ging zu einer ambulanten Therapie und schaffte es auch, vom Alkohol loszukommen. Zuhause wurde es angenehmer und dennoch war ich emotional so abhängig von meiner Mutter, dass ich es nicht schaffte, mich abzunabeln.

Meine Mutter packte es, bis zu ihrem Tod trocken zu bleiben. Es gab mal Gelegenheiten, wo sie einen Schluck nahm; aber dann für sich entschied, dass es das nicht wert war. Auf diese Einstellung bin ich sehr stolz. Es dauerte lange bis ich begriff, dass ich co-abhängig war. Ich hatte ihr immerhin Alkohol gekauft und versucht zu vertuschen, wie es zuhause abging, indem ich immer sagte, alles sei in Ordnung.

Doch dort endete die Abhängigkeit nicht. Meine Mutter war depressiv und mit den Jahren kamen verschiedene Erkrankungen dazu, die ihr das Leben erschwerten, wie Gelenkschmerzen und offene Wunden, die wegen ihrem Diabetes nicht verheilten. Und wieder war ich da und ging einkaufen, kochte und versorgte sie mit Dingen wie Zigaretten, die bei den offenen Wunden Gift waren. Ins Krankenhaus wollte sie nicht und Hilfe von außen ließ sie nicht zu. Ich hatte mir eine Wohnung gesucht und wollte ausziehen, doch der Umzug verzögerte sich über Monate. Irgendwann wurde ein gesetzlicher Betreuer eingeschaltet und meine Mutter kam in ein Heim.

Von da an hatte ich nicht mehr das Gefühl, mich um alles kümmern zu müssen, aber entfalten konnte ich mich auch nicht. Im Heim gab es nur eingeteilt Zigaretten und die rauchte sie schnell auf. Also musste ich hinfahren und ihr neue bringen, was ich als gute Tochter auch tat. Ich hatte das Gefühl, immer auf Abruf zu sitzen. Egal wie schlecht die Wetterbedingungen waren, ich fuhr oft eine Stunde lang zu dem Heim, um ihr Dinge zu bringen.

Als sie im Sommer 2021 starb, hatte ich das erste Mal das Gefühl, durchatmen zu können. Das heißt nicht, dass ich sie nicht geliebt habe, im Gegenteil! Wir standen uns sehr nahe. Und es gab ja auch gute Zeiten und Erinnerungen. Durch diesen drastischen Verlust konnte ich mich losreißen und anfangen meinen Weg zu finden, auf dem ich mich immer noch befinde. Und es geht mir gut dabei! Ich habe meine Wohnung, verbringe Zeit mit Freunden und arbeitete hier in der Redaktion vom Zwielicht. Etwas, was vor Jahren undenkbar gewesen wäre. Hätte ich damals gewusst, dass es Hilfsangebote gibt, hätte ich diese selbst vielleicht schon eher angenommen.

Ich hoffe, dass ich Leuten mit meinen Worten trotzdem helfen und zeigen kann, dass es einen Ausweg gibt. Und das noch, bevor es so ein drastisches und trauriges Ende nimmt, wie in meinem Fall.

Einleitung

Inzwischen hört man immer mehr von Co-Abhängigkeit. Betroffene wissen oft nicht, wie sie aus diesem Teufelskreis der zu engen Bindung herauskommen. Ohne Beistand oder psychologische Hilfe ist das kaum möglich und kostet eine Menge Kraft. Die eigene Psyche wird angegriffen und das, obwohl man nur helfen möchte.

Doch was ist Co-Abhängigkeit eigentlich genau?

Definition

Früher stand der Begriff einzig für die Beschreibung der Verhaltensweise, die eine nahestehende Person von Suchtkranken an den Tag legt und die Suchtproblematik so verschlimmert. Inzwischen wird der Begriff Co-Abhängigkeit weitgefächerter angewendet, z.B. bei Angehörigen von psychisch oder chronisch Kranken und sogar bei emotionaler Abhängigkeit von Partner:innen. Aus der Sicht der Psychoanalyse haben Co-Abhängige auch eigene Motive. Häufig versucht man, auch eigene Bedürfnisse und Ängste zu abzuwehren, indem man für jemand anderen da ist und das eigene Wohlbefinden hintenan stellt. Vor allem das Bedürfnis, helfen zu wollen zeigt eine starke Form dieser Selbstabwehr.
Über die Zeit riskieren Co-Abhängige, auch selbst psychische Störungen zu entwickeln. Das ist vor allem der Fall, wenn die kranke Person nicht bereit ist, sich helfen zu lassen und Angehörige oder Freund:innen hilflos daneben stehen. Dieser Zwiespalt führt dazu, dass die eigene Psyche stark leidet.

Wer ist betroffen

Oft betrifft Co-Abhängigkeit Familienmitglieder. Natürlich ist dieses Verhalten auch bei Partner:innen und Freund:innen zu beobachten. Die kranke Person ist aber immer jemand Nahestehendes aus dem engsten Umfeld.

Bei Paaren, die emotional voneinander abhängig sind, geht es oft um Machtgefühle. Jemand anderen von sich abhängig machen und über dessen Leben bestimmen, gibt einem diese Macht und die Person, die sich nicht losreißen kann ist in dem Fall auch co-abhängig. Es wird sich eingeredet, dass man ohne einander nicht leben kann und die verpartnerte Person braucht.

Kinder sind oft die Leidtragenden. Sie verstehen nicht, warum ein Elternteil das andere schützt, obwohl es eindeutig Hilfe braucht. Der co-abhängige Elternteil vergisst oft, dass sich auch um die Kinder gekümmert werden muss und nicht nur um die kranke Person. Dadurch übernehmen Kinder oft die Rolle der Erwachsenen, die sich mit ihrem Verhalten zusehends selbst kaputt machen. Dass Kinder selbst einkaufen, kochen und zusätzlich noch für Geschwister und die Eltern da sind, ist oft in einem solchen Umfeld zu beobachten und das hinterlässt Spuren. Die Kinder leiden unter Bindungsangst oder übernehmen die Muster der Eltern. Ist ein Elternteil abhängig, geraten Kinder solcher Eltern oft im späteren Leben auch in genau so eine Beziehung und sie stecken im Erwachsenenalter dann selbst wieder in der Co-Abhängigkeit fest. Dann fallen oft Sätze wie: „Ich gerate ja sowieso nur an die Gleichen.“ Und oftmals ist es Betroffenen gar nicht bewusst, dass der Grund dafür in der Kindheit liegt.

Woran merke ich, dass ich in der Co-Abhängigkeit stecke?

In allen Fällen verschlimmert Co-Abhängigkeit das Problem. Finanziert man ein Suchtproblem, ist man co-abhängig. Erfindet man Ausreden über den psychischen Zustand seiner Angehörigen, ist man co-abhängig. Lässt man seine verpartnerte Person über sich bestimmen und tut nichts, ist man co-abhängig.

Man beobachtet drei Phasen der Co-Abhängigkeit.

  1. Die erste Phase wird Beschützerphase genannt. Co-Abhängige tun alles, damit die Sucht oder Erkrankung nicht an die Öffentlichkeit kommt und hoffen, dass die kranke Person sich selbst noch helfen kann und unterstützen deren Verhalten.
  2. Dann folgt die Kontrollphase, in der sich die erkrankte Person nicht mehr selbst helfen kann und Co-Abhängige anfangen, Suchtmittel oder Medikamente zu verstecken. Außerdem werden Aufgaben der kranken Person übernommen, so dass niemand mitbekommt, wie ernst es wirklich ist.
  3. Zuletzt kommt die Anklagephase, in der die Stimmung völlig umschlägt und Betroffene total negativ auf das Krankheitsbild reagieren. Sie sind hilflos und suchen endlich Hilfe bei Außenstehenden, um aus der Situation herauskommen.

Laut der Internetpräsenz der CoDa, kurz für Co-Dependents Anonymous, geben Betroffene bei Fragen ganz typische Sätze wieder.
Einige dieser Aussagen sind:

  • „Wenn er/sie sich ändern würde, wäre alles in Ordnung.“
  • „Ich gerate immer wieder in die gleichen, schlechten Beziehungen.“
  • „Ich denke oft, es ist alles meine Schuld.“
  • „Ich gebe oft mehr als mir gut tut.“

Kommen einem solche Sätze bekannt vor, steckt man vielleicht in einer Co-Abhängigkeit und sollte sich jemandem anvertrauen.

Welche Folgen kann die Co-Abhängigkeit haben?

Menschen, die in einer Co-Abhängigkeit stecken, klagen oft über Kopfschmerzen und Schlafstörungen, aber auch über Rückenschmerzen und Magen-Darm Beschwerden. Auch Depressionen oder Angststörungen können sich einschleichen oder verschlimmern. Oft stellt sich auch eine soziale Isolation ein, da man sich nur noch auf eine Person konzentriert. Dadurch ist das Risiko eine eigene Sucht zu entwickeln, deutlich höher.

Wie kommt man am besten raus?

Wichtig ist, dass man sich jemandem anvertraut. Alleine schafft man es nämlich nicht aus der Abhängigkeit. Sobald man merkt, dass man Hilfe braucht, kann man mit einer Person im hausmedizinischen Dienst über diese Belastung reden. Natürlich kann man das auch im eigenen Umfeld. Falls die kranke Person einverstanden ist, kann man gemeinsam einen Neustart wagen. Zum Beispiel in verschiedenen Kliniken oder Therapieformen.

Wichtig ist in jedem Fall, dass man bereit ist, etwas zu verändern. Natürlich gibt es auch Fälle, in denen die kranke Person nicht einsieht, dass sie Hilfe braucht. In so einem Fall ist es wirklich das Beste, zusammen mit Profis daran zu arbeiten, Abstand zu nehmen und sich um sich selbst zu kümmern.
Ein guter Leitsatz ist also: „Denk zuerst an dich, bevor du anderen hilfst“.

Welche Anlaufstellen gibt es?

Wer meint, in einer Co-Abhängigkeit zu stecken, hat verschiedene Anlaufstellen, bei denen Hilfe gesucht werden kann. Die Suchthilfe bietet auch in diesem Fall Hilfe und kann einen an weitere Stellen vermitteln.

Selbsthilfegruppen sind in jedem Fall sehr nützlich und können dabei helfen, sich gegenüber anderen über die Situation zu öffnen. Für die Suche solcher Gruppen gibt es CoDa. Die Co-Dependents Anonymous ist eine Gemeinschaft, die Gruppen online und in Präsenz anbietet und Betroffenen hilft. Online gibt es die Möglichkeit, nach Selbsthilfegruppen in der Nähe zu suchen und diese zu kontaktieren. In diesen Gruppen wird über das Erlebte geredet und sich ausgetauscht.

Al-Anon bietet ebenfalls Gruppen für Angehörige an, die mit Alkohol zu tun haben. Für Kinder gibt es diese Hilfen bei Alateen. Auch auf der Internetpräsenz lassen sich Gruppen finden und filtern, damit man für sich genau das richtige Angebot findet.

Hilfe suchen heißt nicht, dass man die angehörige Person fallen lassen muss. Im Gegenteil: man muss sich klar von deren Erkrankung abgrenzen und sich auf die eigene Genesung konzentrieren, während die kranke Person Hilfe in einer eigenen Therapieform bekommt.

Und wenn es sein muss, muss man die Person eben sich selbst überlassen.

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