Autor:in: Terpentine

Die Lappalie

0 Kommentare

Inhaltsangabe: Der Text handelt von einer vermeintlichen Konfliktsituation im Discounter. Themen wie Selbstvertrauen, soziale Kompetenz, Ängste, Depression, Mut- und Mutlosigkeit können anklingen

Neulich war ich mit meiner Mutter zum Einkaufen im Discounter. Jemand ließ seinen Wagen vor dem Glasschrank mit den gekühlten Fleischprodukten stehen. Der Wagen stand so, dass kein weiterer Kunde, weder eine der Türen öffnen konnte, geschweige denn, überhaupt irgendetwas vom dort ausgestellten Angebot erkennen konnte. In mir stieg Wut und Fassungslosigkeit auf, angesichts der Rücksichtslosigkeit, mit der Leute heutzutage im Laden unterwegs sind. Deshalb, vor allem aber, weil meine Mutter (84 Jahre alt) sehr stark sehbehindert ist (sie sieht auf einem Auge gar nichts, auf dem anderen hat sie 10% Sehkraft), und ich sie ja in dem Moment begleitete, der Einkaufswagen außerdem noch, so wie er da abgestellt war, eine potentielle Unfallquelle für sie war, echauffierte ich mich hörbar über diesen Umstand.

Von weit weg sah ich jemanden auf mich zukommen, seine Begleiterin im Schlepptau, wie mir schien. Selbstbewusst, festen Schrittes, aufrecht gehend, sich keiner Schuld bewusst. Seine Antwort schon parat. In etwa äußerte er sich an mich gerichtet folgendermaßen: „immer schön freundlich bleiben. Man hätte ja den Einkaufswagen einfach nur zur Seite schieben brauchen…“ Er sagte das alles so von oben herab, war sich seiner Sache absolut sicher. Er brachte es sogar fertig, dass ich mich für den Bruchteil einer Sekunde fühlte, wie ein kleines ahnungsloses Kind. Er hatte eine sehr, sehr herablassende Art an sich. In mir kochte es! Fassungslos schaute ich mein Gegenüber an. Ich erkannte sofort, dass es keinen Sinn mehr hatte, überhaupt noch ein Wort zu verschwenden ihm gegenüber. So redete ich mir das im Nachhinein zumindest schön.

Die Wahrheit ist: leider bin ich in solchen Situationen nicht schlagfertig genug. Aber hatte er deswegen recht? Und hatte er das Recht, so mit mir umzugehen? Ein paar Sekunden später fiel mir dann schon ein, was ich hätte erwidern können. Zum Beispiel, dass Freundlichkeit schon einen Schritt vorher beginnt. Indem man seinen Wagen nicht einfach achtlos irgendwo stehen lässt, sondern auch an seine Mitmenschen denkend handelt. Wie können zwei Menschen gleichzeitig in eine Himmelsrichtung rennen, und den Wagen einfach irgendwo stehen lassen, und zwar genau so, dass er andere behindert? Wie kann man sich danach noch im Recht fühlen! Außerdem hätte ich ihm noch gesagt, dass es ziemlich asozial ist, einen eindeutig begangenen Fehler, wenn auch vermeintlich unabsichtlich begangen, nicht zuzugeben, sondern noch zu versuchen, den anderen wie einen Idioten dastehen zu lassen, während man selbst ja absolut nichts verkehrt gemacht hat. Das ist in meinen Augen kein soziales Verhalten. Wie unentwickelt das Sozialverhalten einer so handelnden Person doch sein muss, wie gering das Selbstvertrauen?! Was würde es einen Menschen kosten, der wirkliches Selbstvertrauen hat, zu sagen: „Es tut mir leid.“ Für mich wirkt das ganze Getue dieses Herren symbolisch für unsere heutige Zeit. Sie wird für mich, in meiner kleinen Welt schnell dadurch immer kälter, dass man versucht, sich vor sich selbst zu rechtfertigen. „Wenn es für mich und mein Gefühl ok ist, dann ist die ganze Welt ok. Und: ich darf mich auf gar keinen Fall in meiner Freiheit beschnitten fühlen. UND: ich mach alles richtig, kein Mensch darf das anzweifeln!!!“

Es geht also eigentlich gar nicht um diese Lappalie, eines achtlos stehengelassenen Einkaufswagens. Es geht darum, mit welcher Einstellung, mit welchem Bewusstsein Menschen handeln, oder eben nicht handeln. Es macht mir große Angst, wenn ich Menschen beobachte, und sehen muss, mit welcher Selbstverständlichkeit sie sich immer vierundzwanzigsieben im Recht fühlen!

Ich hätte ihm also gesagt, dass ein einfaches:“Entschuldigung“ schon genügt hätte, statt sich wieder als derjenige darzustellen, der sich keiner Schuld bewusst ist, der alles richtig macht, der zu allem ein Recht hat. Und, dass ich nicht sein kleines Kind bin, dem man irgendetwas noch an Manieren beibringen muss. Es gibt Menschen, die niemals so etwas wie Anstand beigebracht bekommen haben in ihrem Leben, und die trotzdem sehr weit kommen. Mitgefühl, Höflichkeit, Freundlichkeit, nichts dergleichen haben sie je gelernt, weiter zu geben, vielleicht auch nie erfahren. Wissen sie denn was das ist? Oder reicht es nur so weit, wie ihre Antennen reichen? Ich selbst hatte eine sehr schwere Kindheit, und ich musste sehr schnell lernen, mich anzupassen, ich musste zu jedem Zeitpunkt die Bedürfnisse derjenigen, von denen ich abhängig war, erfassen, damit ich überleben konnte. Und diese Bedürfnisse und Befindlichkeiten änderten sich sehr schnell, je nachdem, ob sie gerade rückfällig oder trocken waren. Ja, ich bin ein Kind von einem suchtkranken Vater und habe einen suchtkranken älteren Bruder. Trotzdem habe ich gelernt, rücksichtsvoll zu meinen Mitmenschen zu sein. Es liegt mir sogar sehr am Herzen! Vielleicht sogar etwas mehr als Anderen?

Aber, es sind solche Leute, wie der beschriebene Herr, die meinen, uns führen zu müssen, die vermeintlich in der Politik sind, die unsere Hausärzte sind. Die Frage, die sich mir stellt, ist: Hat derjenige, der in einem gewissen Moment lauter, präsenter, und anscheinend friedlich wirkender ist (schließlich hat er mich ja zur Freundlichkeit aufgerufen) automatisch recht? Oder gibt es eine Wahrheit, die sich hinter den scheinbaren Kulissen abspielt? Fakt ist, dass das, was wir sehen und hören uns zunächst beeindruckt. Wer stellt sich aber hinterher noch Fragen?

Möglich, dass ich an diesem Tag im Vorfeld schon etwas gestresst war, einen schlechten Tag erwischt hatte, oder sonst was. Möglich sogar, dass ich vermeintlich “krankhaft” auf irgendwelche “Fehler” anderer achte, weil ich sonst nicht viel habe, womit ich mich in besonderer Weise hervortun könnte. Es gibt Tage, an denen ich mich selbst nicht ausstehen kann. Unzufriedenheit und Frustration können sich aufstauen und dann geht man vermeintlich in solche Situationen mit anderen Voraussetzungen hinein. Das räume ich alles ein.

Einmal, einen Tag vor dem sogenannten “heiligen Abend”, wartete ich bestimmt schon seit fünf Minuten in der Kälte auf einen Einkaufswagen vorm Discounter, da alle im Gebrauch waren, weil so viele Menschen so dringend einkaufen mussten. Meine Mutter, die zu dieser Zeit gehäuft im Ladenraum beim Einkaufen gestürzt war, befand sich schon im Inneren, ich ließ sie in dem Moment verständlicherweise nicht gerne allzu lange dort alleine. Da kam ein weißhaariger älterer Herr aus dem Geschäft. (unter uns, einer, von dem ich geglaubt hätte, dass er so ‘n bisschen weise wäre) Und plötzlich kam eine Bekannte von ihm heran geschneid. Ihr wollte er den Wagen so völlig uneigennützig und voller Geberfreude geben. Da sagte ich ihm, dass ich hier schon länger gestanden hätte. Er darauf, immer noch im vollen Bewusstsein seiner Selbstlosigkeit: “Ich gebe doch den Wagen, wem ich will!” Auch hier fiel mir erst viel, viel später ein, was ich hätte sagen können: “Nein, mein Herr, das tun Sie nicht, denn der Wagen gehört Ihnen ja nicht, sondern dem Discounter, oder?” Aber eben, er hatte ja graue Haare! Da hatte man mir beigebracht, dass man vor grauen Haaren Achtung zu haben hat. So stand ich eben ein weiteres Mal fassungslos da!

Ich stelle offen hier die Frage, für alle, die bis hierhin gelesen haben: Übertreibe ich hier etwas? Liegt es am Ende an mir selbst? Ich selbst bin ein Mensch, der Rücksicht nimmt auf andere. Vielleicht manchmal krankhaft zu viel Rücksicht. Dafür können aber andere nichts. Der Fehler könnte darin liegen, dass ich von anderen dasselbe erwarte. Was aber nie geschehen wird. Und nicht nur das. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird meine so große Rücksicht, die ich auf andere nehme, nicht mal von irgendjemandem wahrgenommen. Deshalb ist meine Frage ernst gemeint. Da ich immer wieder an solchen Situationen im Leben scheitere: Übertreibe ich hier etwas? Was meinst du? Geht es dir auch manchmal so?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert