Ich glaube, diesen Satz habe ich zum ersten Mal in meinem Leben in der Grundschule gehört. Er wurde ganz klar als Beleidigung benutzt. Heute begegnet mir das Wort “behindert” seltener. Die meisten Menschen winden und krümmen sich um das Wort herum. Manche machen einen regelrechten Eiertanz drum herum, weil man so was doch heutzutage nicht mehr sagen darf.
Ich habe mir lange Gedanken gemacht, welche anderen Formulierungen besser passen könnten. Ich selbst habe nur eine leichte seelische Behinderung. Und für mich hört sich das Wort Behinderung da eigentlich ziemlich passend an. Meine seelischen Probleme hindern mich daran, mein Leben so zu leben, wie ich es möchte. Eigentlich trifft das Wort genau das, was mir mein Leben so schwer macht.
Ich habe mich lange unnütz und als Sozialschmarotzer gefühlt, weil ich nicht die Leistung erbringen konnte, die von einem „normalen“ „gesunden“ Menschen in meinem Alter gefordert wird. Selbstzweifel haben mich zermartert. Aufgrund einer Weiterbildung habe ich mich mit Ethik und Menschenbildern auseinandergesetzt. Eigentlich dachte ich, dass ich schon alles wüsste, was es da zu wissen gibt – aber weit gefehlt. Dieser Gedankenanstoß hat mich auf eine Reise geführt, die mich selbst erstaunt und erschreckt hat. Ich habe mir Gedanken gemacht, wo das Weltbild, das ich für mich selbst so streng und unerbittlich anwende, selbst aber niemals jemand anderen antun würde, herkommt.
Einen Mensch nur nach seiner Leistung beurteilen. Ein Mensch, der nur etwas wert ist, wenn er für die Gesellschaft ökonomisch wertvoll ist.
Wenn ich mir das Menschenbild des Christentums anschaue, finde ich Hinweise auf ein Menschenbild, was eher gegensätzlich zu meinem ist. Dort wird der Mensch als Geschöpf Gottes angesehen. Er ist perfekt – genau so, wie er ist. Dort ist jedes Leben wertvoll und vollkommen ohne Ansprüche auf Leistung! Die Bibel weist die Menschen unserer Gesellschaft sogar darauf hin, dass es unsere Pflicht ist, uns gegenseitig zu unterstützen. In Paulus Römerbrief 15,1 heißt es: „Wir Starken sind verpflichtet, die Gebrechen der Schwachen zu tragen und nicht nach unserem Gefallen zu leben”.
Nach einiger Recherche im Internet bin ich sehr schnell auf ein Menschenbild getroffen, das meinem eigenen eher ähnelt. Ich war schockiert, als ich verstand, woher mein Anspruchsdenken kommt. Es findet sich in der NS-Zeit. Unter dem Regime von Hitler wurde Leben in “Lebenswert” und „Unwertes Leben“ unterteilt. Als „Unwertes Leben“ wurden Menschen eingestuft, die krank waren. Körperlich, geistige oder seelisch Behinderte Menschen sollten und wurden aus der deutschen Rasse eliminiert. Damit das deutsche Volk stärker wird. Es gab Plakate, auf denen stand, wieviel ein behinderter Mensch die Gesellschaft jeden Monat kostet.
Heute hat sich das Denken zum Glück geändert. Es gibt ein Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention). Dies ist ein abgeschlossener völkerrechtlicher Vertrag, der die Rechte von Menschen mit Behinderungen stärkt und schützt. Es gibt zum Beispiel folgende Rechte in diesem Vertrag:
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Das Recht auf Arbeit (Artikel 6)
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Das Recht auf gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit (Artikel 7 a i)
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Das Recht auf Bildung (Artikel 13)
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Das Recht auf angemessenen Lebensstandard, einschließlich des Rechts auf Wohnen (Artikel 11)
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Das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben (Artikel 15)
Diese Rechte umzusetzen braucht zwar Zeit, aber es sind Rechte! Kein Mensch mit Behinderung muss sich als Bittsteller fühlen, wenn er in die Gesellschaft inkludiert werden möchte. Wir haben Rechte und wir sind ein wertvoller Teil der Gesellschaft! Ohne uns gäbe es weniger Herausforderungen, an denen die Gesellschaft wachsen könnte. Keine Vielfalt, keine Weiterentwicklung. Vielleicht würde die Menschheit noch in der Steinzeit festhängen oder schon längst ein roboterhaftes Leben führen, deren einziges Ziel es ist, mehr und mehr Geld zu schöpfen, egal, zu welchem Preis. Eine Welt, in der es keinen Platz für „Fehler“ gibt. Dabei sind diese „Fehler“ doch so kostbar, um Neues zu entdecken. Wo wären wir ohne unserer „Fehler“?
Sir Isaac Newton hätte niemals die Gravitationsgesetze entdeckt.
Wilson Greatbatch entwickelte den Herzschrittmacher – nur, weil er einen falschen Widerstand einbaute.
Spencer Silver wollte eigentlich einen super Kleber entwickeln; heraus kam das Gegenteil: Ein Kleber, der kaum klebte. So entstand aber das Post-it – ein nützlicher Helfer für den Alltag.
Edward Benedictus hat aus Versehen einen Glaskolben beim Aufräumen umgeworfen und entdeckte so die Grundlage für Sicherheitsglas.
Wollen wir wirklich auf unsere „Fehler“… „Macken“… „Einschränkungen“… „Behinderungen“ verzichten? Oder ist es nicht vielleicht sinnvoller, unseren eigenen Wert zu erkennen? Uns nicht an Maßstäben der Ökonomie zu orientieren, sondern an dem, was wir sind und was wir können?