Autor:in: Heike Oldenburg

Früher Einsatz für Menschenrechte – der „Verrückte, der Freiheit wollte“ Henri Masers de Latude

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„In dieser Welt tun wir nicht immer,

was wir können.“

(H.M.d.L., nach Nos, S. 136)

Im Süden Frankreichs geboren, hatte Henri Masers de Latude das Pech, durch einen Dumme-Jungen-Streich in der letzten Phase der französischen Monarchie in die Fänge der Justiz zu geraten und infolgedessen 35 Jahre lang eingesperrt zu werden. Ihm gelang zwar dreimal die Flucht aus dem Gefängnis. Dennoch war Henri so naiv-zutraulich gegenüber der Justiz, dass er sich nach der dritten Flucht selbst einer Neufestnahme auslieferte.

Seit dem Jahr 1948 sind viele internationale Schutzkonventionen von der UN (Vereinte Nationen) verabschiedet worden, die Menschen wie de Latude schützen sollen. Noch immer haben nicht alle Staaten der Welt diese Konventionen in ihr nationales Recht übernommen. Die Geschichte von de Latude zeigt auch, dass Menschenrechte immer orts- wie zeitgebunden sehr relativ sind (S. 155[1]). Zu de Latudes Zeiten waren Menschenrechte kaum Thema. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) sprach als erster Aufklärer von Menschenrechten. Bereits für ihn war die Freiheit Grundlage für das Menschsein[2].

Eltern und frühes Leben

Das Schloss Creyssels (Rückansicht) Henri Masers de Latudes Wohnort. Foto: Heike Oldenburg

Geboren wurde Jean-Henri Masers de Latude am 23. März 1725 in Montagnac. Henris Geburtsort wird im Schloss Creyssels, damals zu Montagnac gehörend, angenommen. Henri war ein nicht-eheliches Kind einer 20-jährigen, offensichtlich sehr starken Frau, Jeanneton Aubrespy. Ihr Vater war Weizenhändler und besaß eine Herberge. Die Vaterschaft des Gutsherrn Henri de Vissec de Latude (1683-1761) wurde nie offen angezeigt, jedoch liegt die Vermutung nahe. Dieser war wie sein Vater in der Armee. Der Eindruck scheint, dass Henri de Vissec de Latude zwei Haushalte führte. Der eine lag in den Ardennen/südlich von Belgien mit der Baronin Anne de Lagarde de Mureau, die er im Jahr 1729 geheiratet hatte, und sechs Kindern (S. 25). Der zweite Haushalt war in Creyssels/Montagnac. Dessen Umfeld war von Garrigue (mediterraner Strauchheidenformation), Olivenbäumen, Feldern und Wein geprägt. Vielleicht war Jeanneton Aubrespy Henri de Vissec de Latudes große Liebe? Jeanneton Aubrespy wurde im Jahr 1705 geboren. Ihr Beruf ist unklar, sie könnte Wäscherin gewesen sein. Jedenfalls besaß sie Häuser. Sie betrieb wohl eines davon als Herberge für die Händler, die seit dem Jahr 1290 aufgrund der international geschätzten, handgefertigten Wolldecken aus der Region zum Markt in die Stadt kamen. Kindheit und Jugend des Jean-Henri sind kaum belegbar. Seine vermutlich glückliche Kindheit verbrachte er im Schloss. Schreiben und Mathematik erlernte er. Henris Mutter hatte immer genug Geld zur Hand, um ihm zur Seite zu stehen, was sie lebenslang tat. Dabei hat Jeanneton Aubrespy, nachdem Jean-Henri 17-jährig seine Heimat verlassen hatte, ihren Sohn nie wiedergesehen. Als Bastard konnte er vielleicht auch nur weggehen.

Jean-Henri wuchs in einem protestantischen, großbürgerlichen Umfeld auf. In der Verwandtschaft gab es mehrere Chirurgen. Als Chirurgen-Hilfe ging Henri unter dem Namen Danry[3] im Jahr 1742 zur Armee. Er bewegte sich damit in der Tradition seiner Vorfahren. Er verband Wunden bei militärischen Einsätzen im Languedoc, im Elsass und in Flandern. Bei seinen Chefs war Henri gut angesehen. Die sechs Jahre bei der Armee sind brav ohne Eskapaden verlaufen. Nach drei Jahren beendete ein Friedensvertrag seine Armeezeit. Henri ging nach Paris und gab sein Geld als Lebemann aus. Als das Geld knapp wurde, plante Henri ein falsches Attentat auf die Marquise de Pompadour, die neue Geliebte des Königs Louis XV., der von 1710 bis 1774 regierte. Henri hatte vor, sie davor zu warnen und dafür belohnt zu werden. Die vermutete „bombe“ (Bombe, S. 65) im Paket wurde als ungiftiges bitteres Tonerdesalz erkannt. Auf diesen geschmacklosen Witz (S. 63) hin wurde er weggesperrt und isoliert. Als der zu diesem Zeitpunkt 24-Jährige die Wahrheit sagte, schien das den Untersuchenden zu einfach. Das vermutete Komplott löste einen Jahrzehnte währenden Aufenthalt in vier Gefängnissen aus. Wäre die Monarchie als Staatsform nicht überlebt gewesen, so dass der König sich so bedroht fühlte, hätte für dieses kleine Vergehen ein Monat Inhaftierung gereicht, vermutet Nos.

Gefangenschaft

Bild: Benjamin Runge

Die Orte, an denen Henri Masers de Latude eingesperrt war, sind: die Bastille in Paris’ Mitte, das Schloss Vincennes östlich, Charenton südöstlich am Wald von Vincennes und Bicêtre auf der westlichen Seite der Seine, südlich der Bastille.[4]

Henri war im Zeitraum 1749 bis 1784, anfangs „als Zeuge Nr. 1“ (S. 72), eingeschlossen. Nach drei Monaten in der Bastille, der östlichen Stadttor-Burg mit acht Zinnentürmen, 24 m hohen und 3 m dicken Mauern und einem Festungsgraben, wurde er aufgrund von Tobsuchtsanfällen nach Vincennes verlegt. Sechs Tage nach der ersten Flucht im Jahr 1750 wurde er erneut in der Bastille untergebracht. Vom Februar bis Juni 1756 floh Henri bis Amsterdam, wurde wieder aufgegriffen und neun Jahre in der Bastille sowie in Vincennes festgehalten. Nach der dritten Flucht im November 1765 folgten zwölf Jahre Gefangenschaft in Vincennes und Charenton. Ab dem Jahr 1775 lebte Henri zwei Jahre in Charenton, da er nun als „Geisteskranker“[5] eingeschätzt worden war. Im Vergleich zur Bastille wurde man hier wie Vieh behandelt (S. 230). Hier lebte er ohne Komfort und älter werdend unter erschwerten Bedingungen. Auf die Entlassung hin wurde Henri auf dem Weg nach Montagnac nach vier Wochen aufgegriffen[6] und in der früheren Burg Bicêtre, die nun als Gefängnis für Bettler, sonstige Unerwünschte und weitere Problemfälle aus Paris genutzt wurde, sechseinhalb Jahre eingesperrt.

In den ersten beiden Gefängnissen war Henri in Einzelhaft. Er hatte Zugang zu Papier, Federn und Tinte, Zigaretten und Büchern aus der Bibliothek der Bastille. Er las viel. Die philosophische Strömung „Aufklärung“ gab es bereits. Unter vielen Romanen fanden sich sogar systemkritische Autoren. Henri hatte Kontakte nach innen und nach außen. Einige der Wächter waren als Kriegsrentner oder -versehrte für seine Sorgen und Nöte erreichbar. Für die Kommunikation mit den Mitgefangenen hatte Henri elf Monate(!) lang ein Loch in eine Wand geschabt. Die vielen Gerüchte im Gefängnis erreichten so auch ihn. Für Henris Alltag waren Kleinigkeiten wichtig, denn der verlief eintönig-langsam. Er hatte sich eine Flöte gebastelt, das Spielen beruhigte ihn. Andere störte es hingegen, sodass ihm die Flöte abgenommen wurde. Besonders gut konnte Henri Tiere jeder Art zähmen. Er hatte viele Ratten zu Besuch, die beim Schlafen auf seiner Brust herumkrabbelten und seine Ohren anknabberten (zitiert aus Nos, nach de Latude). Er zähmte sie mit Brotkrumen, genauso wie zwei Tauben im Jahr 1759. Diese wollte er Mme Pompadour „als Zeichen des Respekts und der Freundschaft“ (S. 116) schenken.

In anderen Phasen der Gefangenschaft lebte Henri 107 Tage zur Strafe in einer dunklen Zelle, davon 74 Tage nur mit Brot und Wasser (1771). Im Jahr 1774 verlor er während 146 Tagen in der Zelle den Lebensmut. Das werden die Momente gewesen sein, wo Henri „die Bastille mit Ausbrüchen seiner Donnerstimme“ füllte (S. 318). Er entwickelte Lebens-Wut – oder Überlebens-Wut? Bereits im Jahr 1763 klagte er sein Recht auf Wut ein. In solchen Phasen formulierte Henri in einem Brief an Mme Pompadour einmal: „Das ist ein Charakterzug, der ein Volk zum Revolution-Machen befähigen könnte.“ Dieses Verhalten machte es für die über seine Entlassung Entscheidenden nicht einfacher. Ob er mit mehr Geduld zeigen und mehr Ruhe eher entlassen worden wäre, ist allerdings unklar. Sein „Fall“ wurde mit den Jahren durch das Hinauszögern der Entlassung immer peinlicher. Zeitweise hatte Henri Angst, dass man ihn in den Selbstmord treiben wolle (S. 105).

Fluchten

Bild: Benjamin Runge

Einen fanatischen Wunsch nach Freiheit hatte Henri nicht. Er wollte vor allem gerecht gesehen und beurteilt werden. Das machte ihn zu einer ganz besonderen Person.

Für die Fluchten verdient Henri Bewunderung und Verwunderung. Er zeigte große Fantasie beim Flüchten. Die erste Flucht gelang ihm beim Mittagsspaziergang nach 14 Monaten Haft. Dabei passierte er vier Tore. Bei der ersten und dritten Flucht mischte er sich „Halt! Halt!“-schreiend unter die Verfolger. Woher kam die Idee zu der zweiten Flucht? Aus Wahnsinn? Ihm selbst gab die Idee Mut und aus Verzweiflung gefütterte Energie (S. 86). Diese Flucht rechtfertigte Henri mit der Sorge, im Gefängnis zu „verschimmeln“. Ein Polizeileutnant kaufte erstaunlicherweise für Henris Zellen-Mithäftling (1750 bis 56) spezielle Bücher über Festungen, Hydraulik, Architektur und Mechanik. Henri las sie auch. Über 3,5 Jahre hin haben sich beide das Konzept ausgedacht und die Durchführung gründlich vorbereitet. Sie brauchten eine Strickleiter von circa 60 m Länge. Dazu bestellten sie laufend Hemden und Taschentücher aus edlem Batist, zerrupften sie und verflochten die Fäden neu[7]. Die Leiter musste bei den regelmäßigen Zellendurchsuchungen versteckt gehalten werden. Eine 7-teilige Holzleiter musste her, um über den Festungsgraben hinüber zu kommen. Zuvor mussten sie in neun Stunden ein Loch durch die Wand schaben. Ob Henri anschließend ein protestantisches Netzwerk nutzte, um Frankreich zu verlassen und Amsterdam zu erreichen? Die Festnahme in Holland Monate später verstieß gegen das holländische Gastrecht. Henri erstaunte die Polizei, indem er sich durch (zu) offene Adressen erneuter Verhaftung auslieferte. Nach der dritten Flucht stellte sich Henri sogar voll Vertrauen selbst der Justiz in Versailles, um von den Ministern gerecht beurteilt zu werden. Seine Unschuld wollte Henri öffentlich anerkannt, seine Freiheit offiziell erklärt haben (S. 329). Das war unvorsichtig. Er wurde erneut festgenommen.

Schreiben und Charakter

Bild: Benjamin Runge

Die Gefangenschaft Henri Masers de Latudes wäre nur eine Fußnote in der Geschichte geblieben, wenn er nicht diesen für ihn lebensrettenden Drang zum Schreiben gehabt hätte. Die unzähligen Briefe, die er an mögliche, über seine Entlassung Entscheidende schrieb, wurden zur Grundlage für seine Memoiren („Grand Mémoire ou Rêveries du sieur Masers de Latude“, Erinnerungen oder Träumereien des Herrn M.d.L.), die in den Jahren 1787, 1790 und 1792 erschienen und von ihm je nach den Umständen dem Zeitlauf angepasst wurden. Er schrieb Briefe wie an Schwerhörige und wiederholte sich dabei auch. Sie waren bemerkenswert, kühn, bewegend, flehend, anrührend, ernsthaft, zum Teil dramatisch. Henri hatte eine humorvolle Seite, die es für alle Beteiligten einfacher machte, ihm trotz des benannten Elends weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken. Er rechnete vor, dass seine ganze lange Gefangenschaft 272.000 Livres gekostet habe (S. 336). Henris Schreibgrund war, jemanden zum Besuch in seiner Zelle zu bewegen. Außerdem fand er Ausgleich im Aufschreiben seiner Gedanken, da er sich nicht unterhalten konnte. „Schreiben war für ihn eine Notwendigkeit, nicht nur um erhört zu werden, sondern es hatte auch eine hygienische Funktion für ihn selbst, er konnte so dem Verrückt-Werden vorbeugen.“ (S. 223, übersetzt H.O.) Später verwendete Henri alles, was er in die Hände bekam, zum Beschreiben, zum Beispiel auf Brotkrumen, die er mit Speichel zusammengeklebt hatte, vergleichbar ägyptischem Pergament. Buchränder nutzte er ebenfalls. Auf dem Hemd verwendete er sein Blut als Tinte.

Seit dem Jahr 1765 glaubte Henri, dass er eingesperrt sei, weil die verantwortlichen Personen, ausgehend von der sehr ängstlichen „Zauberin“ Mme Pompadour, von Dämonen besessen und verzaubert seien (S. 138). Diese Annahmen belegte er aus Büchern aus der Bibliothek. In Briefen an Mme Pompadour führte er einen Anspruch auf Gerechtigkeit umfassend aus (S. 119). Auch nach ihrem Tod im Jahre 1764 verbesserten sich seine Haftbedingungen nicht. Im Jahrzehnt 1770 bis 1780 dachte Henri am stärksten über Verzauberungen nach. Der Dämon sei nach dem Tod Mme Pompadours in den König eingefahren, dies erschwere seine Freilassung. Henri wurde im Verlaufe seiner Gefangenschaft immer aggressiver und auffahrend, da er nichts erreichte. Daher wurde er am Ende als verrückt angesehen und in das Irrenhaus überwiesen. In Charenton wurde Henri als einziger isoliert. Sein Ton änderte sich jetzt, er schrieb nun mit Kopien. Erstaunlicherweise sprach Henri ab dem Moment, wo er in Charenton offiziell zu den Verrückten gehörte, nicht mehr von Verzauberung durch Dämonen (S. 228). Es scheint angemessen, uns in die Gedankenwelt eines von dem unseren sehr unterschiedlichen Jahrhunderts hineinzudenken, wenn wir von Menschen berichten, die in den Verdacht der Verrücktheit gekommen sind, obgleich deren Verhalten uns unter anderen Umständen normal erscheint. Dr. Jean Salvaing, Neuropsychiater und Historiker, fasste in einem Kolloqium im Jahre 1987 alle vorhandenen Quellen zusammen. Er versuchte „das Latude‘sche Ich“ (S. 318) anhand von dessen „Rêveries …“ in seinem Umfeld zu verstehen. Zwar habe de Latude regelmäßig Phasen leicht gehobener, abgeschwächt-psychotischer Grundstimmung und gesteigerten Antriebs, meist im Wechsel mit manisch-depressiven Zuständen gehabt. Punktuell seien sie bis zur wütenden Verrücktheit gesteigert gewesen. Alle Anzeichen einer Verrücktheit verschwanden nach de Latudes Gefangenschaft. De Latude habe sich zum Teil bewusst so gegeben, als sei er verrückt. Bei der Bewertung als Verrückter wird die Brutalität der medizinischen Bewertungen deutlich (S. 321). Salvaing kommt zu dem Schluss, dass diese Verrücktheiten aus der Isolation heraus entstanden seien. Nach Nos müsse man die „sanfte Verrücktheit ohne Folgen“ (S. 321) von sehr gefährlicher Verrücktheit unterscheiden. Im 18. Jahrhundert habe es die psychologischen Untersuchungsmethoden noch nicht gegeben, anhand derer mensch sich über Nuancen von Verrücktheit Gedanken hätte machen können. Meiner Meinung nach sind nicht die Nuancen das größte Problem, sondern die Sichtweise auf andere Menschen, anhand derer diese noch heute oft ausgeschlossen werden. Die Normalen sind unser Problem, nicht die Irren.[8]

War Henri ein „ewiger Gefangener und ewiger Flüchtender“ (S. 7)? War er „ein Verrückter oder ein Held?“ (beide S. 7) Jedenfalls besaß er eine „komplexe Persönlichkeit“ (S. 10). Henri Masers de Latude war ein offenherziger, heiterer, naiver und sehr aktiver Mensch, der sich für fast alles interessierte. Mit einer Körpergröße von 1,70 m war er für einen Südländer sehr groß. Er hatte braune Haare, war gut gewachsen und hatte ein einnehmendes Wesen. Mit attraktivem Mittelmeer-Akzent redete er viel und gerne. Er war ein Schürzenjäger. Sein Vertrauen in Frauen war groß. Oft haben Frauen ihm in seinem Leben geholfen. Sie waren erreichbarer für seine Worte, Gefühle und zum Teil romantischen Ideen. Henri wollte hoch hinaus. Er war treuherzig, ehrlich, kreativ und erfinderisch, wie ein Genie. Er verfolgte ohne Unterlass Projekte. Dabei war er, bei starkem Willen, eigensinnig und halsstarrig und gab nie auf. Er dachte an alles, was im Umfeld wichtig sein könnte. Als Hobby hat sich Henri Wissen zu Militär, zu Finanzen und Technik zumeist autodidaktisch erarbeitet. Während der Haft schlug Henri diversen Verantwortlichen systemische Änderungen im Staatswesen vor, zum Beispiel ein Projekt, um den dauerhaften Hunger der französischen Bevölkerung zu beenden. Auch fügte er seinen Entwürfen Zeichnungen bei.

Henri wusste gezielt zu schmeicheln. Seine Wortbilder berührten, sogar wenn er bedrohend oder vulgär wurde. Zum Beispiel schrieb er, dass er „larmes de sang“ (Bluttränen, S. 169) weine. Orthographie sowie Punkte waren dabei völlig ungeordnet. Zum Beispiel schrieb er „dames anstatt d`ȃmes“ (Damen statt Seelen, S. 342). Nie vergaß er dabei seine Gesamtsituation. Aufgrund der massiv wachsenden Kritik an der Monarchie wagte kein Verantwortlicher zu entscheiden, ob Henri nicht einfach entlassen werden könnte. Da er für Nichts angeklagt war, wurde er zum Ankläger (S. 156). Zuletzt kämpfte er gegen den Skorbut, eine schwere Mangelerkrankung, gegen das Vergessenwerden und gegen den Untergang. Er „bot einer vernichtenden und unmenschlichen Institution, für die das menschliche Leben wenig Gewicht, wenig Wert hatte, die Stirn. (…) Das einzige Bild, das einem dazu einfällt, ist das des Ertrinkenden in der Mitte des Ozeans, sich an einer Planke festhaltend, (…).“ (S. 203) Es haben vielleicht nicht alle Menschen in vollem Umfang begriffen, worauf er in seinen Briefen hinaus wollte.

Danach

Bild: Benjamin Runge

Für Henris endgültige Freilassung setzte sich seit dem Winter 1781 sehr konsequent die Kurzwarenhändlerin Mme Françoise Legros ein. Nachdem Henri drei Jahre später freikam, zog er zum Ehepaar Legros. Mme Legros erhielt im selben Jahr den Preis Monthyon von der „Académie Francaise“[9]. Henri wurde der Publikumsliebling der Pariser feinen Gesellschaft. Es ist fast unglaublich, dass er die Jahrzehnte der Gefangenschaft ohne dauerhafte Schädigungen überstanden hat. Der nun 60-Jährige lebte noch 21 Jahre als freier Mensch. Henris Entschädigungsrente betrug anfangs 400 Livres[10], sie wurde im Februar 1792 auf 3000 Livres hoch gesetzt. Er wurde als beispielhaftes Opfer des königlichen Absolutismus behandelt. In einer Untersuchung während der Haft sagte Henri: „Sie schätzen mich gering, aber … Es wird ein Tag kommen, wo der Minister, der Oberleutnant der Polizei sich sicherlich ärgern werden, dass sie mich schlecht behandelt haben.“ Auf die ironische Bemerkung des Untersuchers: „Ja, ohne Zweifel wird der Minister vor Ihnen auf die Knie gehen und weinend um Entschuldigung bitten!“ erwiderte Henri aufgebracht: „Sie werden wütend sein, dass sie einen Unschuldigen leiden gemacht haben und sie werden es büßen.“ (S. 336, übersetzt H.O.) Zumindest die Erben der Pompadour büßten im September 1793, als sie 60.000 Livres Entschädigung an Henri zahlen mussten.

Im eigenen Lebensstil war Henri nie revolutionär, eher diskret, auch über sein Privatleben. Im Jahr 1802 wurde über ihn bemerkt, dass er jünger und lebendig wirkte und mit großem Spaß den Charme des Lebens genoss. Er hielt sich ohne müde zu werden, auf langen Rundwegen durch Paris fit. Nach einer ruhigen, auf einfache, aber intensive Art gelebten Rentenzeit verstarb Henri Masers de Latude mit 80 Jahren und fiel dann dem Vergessen anheim.

Henri hat nicht nur Zeugnis von den Verhältnissen seiner Zeit abgelegt. Im 18. Jahrhundert war das Leben von Eingesperrten vielen Menschen gleichgültig. Henri Masers de Latude ist nur einigen wenigen geschichtsbewussten Französinnen zu einer symbolhaften Persönlichkeit geworden. Es wird Zeit, dass der konsequent um sein ureigenes Menschenrecht auf Freiheit und Anerkennung seiner durch Geburt gegebenen Menschenwürde kämpfende Henri Masers de Latude wieder einem größeren Kreis von Menschen bekannt wird.

Quelle

André Nos, le fou de la liberté, Jean Henri Masers de Latude, 1725-1805, Pézenas 1994

Anmerkungen

  1. Seitenangaben aus André Nos, „le fou de la liberté“, Jean Henri Masers de Latude, 1725-1805, Pézenas 1994 ↑ Zurück zur Textstelle
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenrechte#Die_Menschenrechte_in_der_Aufkl%C3%A4rung, Zugriff 29. Juli 2020 ↑ Zurück zur Textstelle
  3. Henri hat sein Leben lang den Nachnamen gewechselt. Nos nennt es ein „permanentes Spiel“ (S. 52). Er anonymisierte sich selbst dadurch. Nach dem Tod seines Vaters im September 1764 nahm er den Namen Masers de Latude an. In Charenton nannte er sich Danger (Gefahr), in Bicêtre Jedor, um den Namen des Vaters nicht zu bekleckern. Ab dem Rentnerdasein nannte er sich wieder, obwohl ohne Recht dazu, Masers de Latude. ↑ Zurück zur Textstelle
  4. Alle Gebäude sind heute mit der Metro innerhalb von je ca. 30 Minuten untereinander erreichbar. Außer Charenton wurden sie vor dem Jahr 1400 fertiggestellt. Die verblüffend unverhältnismäßig riesige Bastille (frz. „kleine Bastion“) war von einem Eindruck von Kälte bestimmt. Sie wurde mit circa 80 Kerkerzimmern ab ungefähr dem Jahr 1640 als Staatsgefängnis genutzt. Die Mauern erlaubten wenig Tageslicht. Vom König erhielt mensch während der Gefangenschaft eine Pension. Damit konnten Hafterleichterungen (gutes Essen, Hemden, …) eingekauft werden. Die Bastille war gefürchtet, da komplett von der Öffentlichkeit abgeschlossen. Sie wurde nach dem Sturm im Juli 1789 innerhalb von drei Jahren für den Bau der naheliegenden Steinbogenbrücke über die Seine sowie für den privaten Hausbau von Bürgerinnen (Es sind alle Geschlechter mitgemeint.) umgenutzt. Heute gibt es noch eine Aufpflasterung mit den Abmessungen der Bastille. Das Schloss Vincennes wurde sieben Kilometer südöstlich von Paris am Jagdwald der Könige erbaut und diente bis zum Jahr 1715 als Residenz. Der 50m hohe Wohn- und Wehrturm „Donjon“ wurde ab circa dem Jahr 1450 als Aristokraten-Gefängnis genutzt. Der Donjon war besser als sein Ruf. Zwischen den Jahren 1640 und 1784 waren nur noch Menschen mit Lettre de Cachet, einem versiegelten Schreiben, mit dem jedwede Person ohne Gerichtsverfahren eingesperrt werden konnte, hier. In beiden Gefängnissen war Schriftstellerei die einzige Betätigungsmöglichkeit und Spazierengehen der einzige körperliche Ausgleich. Charenton(-St. Maurice) wurde im Jahr 1645 von den Barmherzigen Brüdern als „La Maison royale de [santé à] Charenton“ (Königliches Krankenhaus CH., H.O.) für „arme Kranke“, Epileptiker und Irre gegründet. In der ehemaligen Burg Bicêtre entstand im Jahr 1633 ein Asyl für verwundete Soldaten und ein Krankenhaus. Ab dem Jahre 1655 wurde es als Gefängnis umgenutzt. Ob Henri auch angekettet war und ausgepeitscht wurde? Im Jahre 1733 wurde ein 5m breiter und 60m tiefer Brunnen angelegt, aus dem über 100 Jahre lang „Geisteskranke“ das Wasser holen mussten. Da Henri dies Stigma hatte, wird auch er das getan haben. Im Hof konnte die feine Gesellschaft spazieren gehen und sich bis zur Schließung im Jahre 1836 am Anblick der „Abgeschobenen“ ergötzen. https://de.wikipedia.org/wiki/Bastille, https://de.wikipedia.org/wiki/Vincennes, https://de.wikipedia.org/wiki/Hospiz_zu_Charenton, https://de.wikipedia.org/wiki/Bic%C3%Aatre, alle Zugriff 5. Juli 2020. ↑ Zurück zur Textstelle
  5. In dem deutschen Wikipedia-Eintrag zu Henri Masers de Latude wird er unhinterfragt als solcher bezeichnet. Eine der weiteren vielen Fehlinformationen ist, dass de Latude „zum Studium der Mathematik nach Paris gekommen“ sei (S. 48). Dem zugrunde liegen die Lügenmärchen in den öfters von ihm selbst überarbeiteten Memoiren. Er stellte sich darin als Graf, als Ingenieur oder auch als Chevalier dar. In seinen romantisierten Büchern hat er sich als phänomenale Legende stilisiert (S. 231). https://de.wikipedia.org/wiki/Henri_Masers_de_Latude, Zugriff 5. Juli 2020 ↑ Zurück zur Textstelle
  6. Möglicherweise war Henri zögerlich, in seinen Geburtsort zurückzukehren. Die Worte Gefängnis und Bastille grausten die Menschen. ↑ Zurück zur Textstelle
  7. Ob Henri gelernter Seiler war? Dies war ein übliches Handwerk in Montagnac, belegt durch die „Rue de la Corderie“. Auf die Frage, wie er nach Charenton leben wolle, sagte er, er habe als Seiler und als Hirte gearbeitet (S. 343). ↑ Zurück zur Textstelle
  8. Siehe Buchtitel: Manfred Lütz, „Irre – Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen“, Gütersloh 2009 ↑ Zurück zur Textstelle
  9. Die Französische Akademie ist eine Gelehrtengesellschaft, die seit dem Jahr 1635 die „Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache“ verfolgt. Sie unterstützt mit Preisen u.a. „wohltätige Zwecke, kinderreiche Familien, Witwen, Arme sowie ehrenamtliche Arbeit.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Acad%C3%A9mie_fran%C3%A7aise , Zugriff 29. Juli 2020 ↑ Zurück zur Textstelle
  10. Frz. „Pfund“ (lat. „libra“), französische Silberwährung, schnell inflationär verfallend. Im August 1795 durch den Franc ersetzt. https://de.wikipedia.org/wiki/Livre , Zugriff 5. Juli 2020 ↑ Zurück zur Textstelle

3 Gedanken zu „Früher Einsatz für Menschenrechte – der „Verrückte, der Freiheit wollte“ Henri Masers de Latude

  1. Ich kenne Heike Oldenburg seit ca. 16 Jahren und bewundere ihre Energie trotz verschiedener Einschränkungen. Genau, einschließlich Anmerkungen, las ich ihren langen Artikel mit den genauen Recherchen und Beurteilungen .Ich freue mich über diese Veröffentlichung. Neuere Buchtitel wie “Wir behandeln die Falschen” stehen in einem wichtigen hisdtorischen Zusammenghang. Dank an Heike. Oldenburg und die Herausgeber/innen.

  2. An einem gemütlichen Sonntagnachmittag habe ich es mir mit Heike Oldenburgs schönen Artikel über Henri Masers de Latude gemütlich gemacht – ich finde ihn super! Eine spannende Geschichte, von der ich noch nichts gehört hatte, und sehr komplex erzählt, vielen Dank!

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