Eine Referentin war Gwen Schulz aus Hamburg, welche die Zuhörer mit einem sehr persönlichen und berührenden Vortrag beeindruckt hat. Sie hat uns diesen Vortrag freundlicherweise in schriftlicher Form zur Verfügung gestellt.
Ich habe meinen Beitrag „Genesung: Ermutigung zum Eigensein“ genannt. Genesung bedeutet für mich, zu sich kommen, sein Leben verantwortlich in die Hand nehmen und bewusst entscheiden und darum bitten, wann und wobei andere Menschen mich gegebenenfalls unterstützen. Der Begriff Genesung bedeutet für mich nicht zwangsläufig Symptomfreiheit. Ich glaube Symptome können erst dann verschwinden oder handhabbar werden, wenn man sie versteht, wenn man sie zu sich nimmt und nicht abspaltet, nicht genötigt wird, Frühwarnzeichen bei sich selbst zu beobachten.
Ich will nicht vor mir gewarnt werden und dadurch Angst entwickeln, sondern im Gegenteil, es geht darum, sich mit sich selbst zu befreunden, sich zu verstehen. Ich habe in meinem Leben sehr schmerzlich erkennen müssen, dass mir manches nicht möglich sein wird. Dafür hat sich anderes befreit. Nach vielen Psychiatrieaufenthalten und Entfremdung von mir selbst, nach immer wieder Krisen und Steine-aus-dem-Weg-räumen, gehört mir mein Leben inzwischen. Ich bin Antwort auf das, was in mir wohnt. Deshalb der Titel. Genesung: Ermutigung zum Eigensein.
Wie kann Begleitung Raum geben, sich selbst als eigenverantwortlichen Teil in dieser Welt zu begreifen, ohne sich unbedingt anpassen zu müssen bzw. das Eigensein zu verlieren. Wie kann verhindert werden, klein und schwach bleiben zu müssen, sodass Hilflosigkeit ein Stück der Identität wird, weil ein Mensch sich nirgendwo anders erlebt, gebraucht wird, weil auch soziale Kontakte und Wünsche nach Versorgung überwiegend oder manchmal ausschließlich auf Helfer reduziert werden ? Eine Diagnose kann dadurch zur Identität werden, weil sie mir beweist, dass ich bin. Wenn ich schon niemand anderes bin in dieser Welt, wenn mich schon niemand kennt, wenn mich schon niemand braucht, und ich anders keine Resonanz habe, bin ich wenigstens eine Diagnose, habe ein Label und verhalte mich entsprechend.
Um ein bisschen nachvollziehbar zu machen, wie ich zu meinen Gedanken komme, möchte ich zunächst etwas über mich selbst, meine Erfahrung mit der Psychiatrie und dem Hilfesystem sagen, insbesondere mit dem Blick auf das, was mich unterstützt hat, was mich behindert hat auf meinem Weg, autonom zu werden. Ich bin mit 14 Jahren das erste Mal in die Psychiatrie gekommen. Es wurde eine Hebephrenie und eine geistige Einschränkung diagnostiziert. Ich wurde mit Haloperidol und später mit Glianimon behandelt. Ich wurde freundlich darüber informiert, dass ich eine Hirnstoffwechselstörung habe, die bedauerlich ist, nicht weggehen wird, für die ich nichts kann, die aber mit Medikamenten gut zu behandeln ist. Insgesamt habe ich zwischen 1970 und 1993 fünf Jahre meines Lebens in psychiatrischen Einrichtungen verbracht. Ich habe sehr verschiedene Stationen kennengelernt: Wachsäle, in denen die privaten Dinge in blaue Müllsäcke abgegeben werden mussten, geschlossene Stationen, später auch Abteilungen mit einem psychotherapeutischen Anspruch.
Ich höre Stimmen, die mein Leben ganz konkret bedrohen, ich habe den Eindruck, mich körperlich aufzulösen. Die Begrenzung der Gestalt bekommt Risse und wird konturenlos. Das Niemandsland, was uns umgibt, was uns schützt, was sich zwischen uns und die Welt stellt, geht verloren. Ich fühlte mich wie ein Alien auf einem anderen Planeten, wo jegliche Verbindung zur Welt, aber auch zu meinem Selbst reißt. Optisch wird alles eindimensional, verliert die Tiefe. Es ist wie in einem Buch, als wäre alles auf Papier gemalt, ohne umgebenden Raum und Tiefe. Früher, wenn die Stimmen zu laut und zu bedrohlich wurden, bin ich entweder in die Klinik eingewiesen worden, oder bin freiwillig dort hingegangen. Ich fand mich krank, habe nicht verstanden warum, was in mir passiert, empfand mich mir ausgeliefert. Die Psychiatrie hat mir Medikamente angeboten, das war zunächst die einzige Antwort auf psychotische Symptome. Später gab es zusätzlich Gespräche, Beschäftigungstherapie. Die Medikamente, die mir angeboten wurden, habe ich nie als hilfreich erlebt, sondern im Gegenteil, als Wegnahme der Reste meines Selbst. Später habe ich sie, wann immer es mir möglich war, ausgespuckt. Mir wurde durchgehend vermittelt, dass ich nicht richtig bin, dass ich anders werden muss, dass meine Symptome krank sind und ich sie bekämpfen muss. Das habe ich getan. Ich hatte eine sehr große Sehnsucht, ein ganz anderer Mensch zu werden, ich wollte vor allem unauffällig dazugehören dürfen. Ich habe mich sehr nach Heil-Sein gesehnt, nach Frieden, nach Ruhe vor allem. Ich hätte mir durchaus gewünscht, dass es Medikamente gibt, die mir diese innere und äußere Qual abnehmen.
Anfang der 90er Jahre habe ich die sozialpsychiatrische Ambulanz kennengelernt, wurde dort sehr respektvoll und vor allem wertschätzend unterstützt. Meine Symptome standen nicht im Vordergrund, ich musste nicht krankheitseinsichtig sein und wurde nicht erpresst bei Behandlungen, die ich nicht will, mitzumachen, damit ich beweise, dass ich gesund werden will. Meine bisherigen Strategien, mich dem Leben zu stellen, wurden respektiert. Ich hatte beschlossen – trotz großer Not, nie mehr in eine psychiatrische Klinik zu gehen. Auch wenn das immer mal wieder zur Diskussion stand, konnte ich meinen Teil dazu beitragen im Sinne von Verantwortung übernehmen, dass nicht über meinen Kopf hinweg entschieden wird.
Ich bin mein Leben lang mit dem sehr großen Widerspruch, dazugehören zu wollen, dabei sein zu wollen und gleichzeitiger Angst vor Bemächtigung anderer, bzw. dem konkreten Erleben vom Auflösen meiner Person konfrontiert. Mein Bedürfnis und meine Lebensnotwendigkeit, autonom zu sein, ist sehr schnell bedroht. Auch heute noch.
Seit über 20 Jahren war ich in keiner stationären Behandlung mehr, ich komme zurecht. Meine Symptome sind nicht weg, aber ich habe sie besser verstanden, ich habe sie zu mir genommen. Ich habe ihnen in meinem Pfahlbautenhaus mehrere Zimmer untervermietet. Seitdem sie Platz bekommen haben, ich nicht mehr gegen sie ankämpfe, terrorisieren sie mich in der Regel nicht mehr so stark. Der Raum, den sie sich nehmen, ist unterschiedlich groß. Es ist ein einerseits sehr schmerzhafter Prozess zu erkennen, sie gehören zu mir, sie sind in mir entstanden, sie haben mit meiner Biographie zu tun, mit meinem schweren Menschwerden. Gleichzeitig ist dieses Verstehen aber auch für mich die Grundlage dafür, dass ich nicht mehr fremdgesteuert durch sie und extrem bedroht in eine Klinik gehen muss. Den Sinn in der Psychose zu erkennen bedeutet nicht gleichzeitig, sie zu verherrlichen. Sinn an sich ist nicht gut oder schön. Ich erlebe meine Psychose extrem beängstigend. Den Sinn zu erkennen, zu begreifen war dennoch für mich Voraussetzung, mich nicht mehr so hilflos ausgeliefert zu fühlen. Meine Psychose ist nicht ohne Grund entstanden, sie ist nicht vom Himmel gefallen. Manchmal höre ich immer noch Stimmen. Am schwierigsten und nach wie vor vertrautesten ist für mich die „Hautlosigkeit“. Ich habe immer noch sehr häufig das Gefühl, mich aufzulösen und der Welt zu wenig Widerstand entgegensetzen zu können, die meine Silhouette schützt. Die das Innen tröstlich vom Außen trennt. Die einen Abstand zu der Welt macht und Raum dafür gibt zu sortieren, was geht mich was an und was nicht.
Trotzdem geht es mir heute besser.
Es gibt hauptsächlich 3 Gründe, warum das so ist.
Ich werde seit fast 20 Jahren von zwei Wesen begleitet, die mir das Leben sehr erleichtern, weil durch sie immer ein Rest, ein seidener Faden an Verbindung zur Welt bleibt. Es sind keine Menschen und keine lebendigen Tiere. Sie sind anders als ich. Nicht beirrbar, auch nicht durch mich und meine nach wie vor große Verunsicherbarkeit. Sie gehen nicht weg. Sie sind großherzig und humorvoll. Und sie sind ein Garant für Beziehung, im Sinne von mich auf sie beziehen können und nicht ganz verloren gehen. Einen Faden auswerfen können, der irgendwohin ankert. Diesen seidenen Faden nicht mehr zu haben ist schrecklich. Außerdem hat sich dadurch eine wirklich erbarmungslose Einsamkeit im eigentlichen Sinn aufgelöst. Einsamkeit, die weniger mit Anwesenheit von Menschen zu tun hat, sondern mit völliger innerer Verlorenheit.
Außerdem habe ich in den 1990er Jahren entschieden, nie mehr in eine Klinik zu gehen, nicht mehr über mich bestimmen zu lassen, und eigentlich noch verzweifelter zu sein, weil es ein dauerndes Missverständnis darüber gibt, was ich an Unterstützung brauche und was mir angeboten wird. Dabei habe ich durchaus auch freundliche Menschen getroffen. Aber ich wurde einerseits viel zu viel versorgt, war in einem Kokon, der mit der Welt draußen nicht vergleichbar ist. Andererseits wurde mir in der Regel Eigeninitiative, Eigenverantwortung abgesprochen. Es gab keine (Verhandlungs)spielräume, in denen ich hätte üben können, Mensch unter Menschen zu sein. Ich war entweder schwach, hilfsbedürftig und klein – dann war man in der Regel sehr freundlich, oder ich habe mich gewehrt, war uneinsichtig und damit krank. Ich habe nicht gelernt, Verhalten zu verändern, etwas auszuprobieren und überhaupt zu erleben: Ich habe etwas mit dem zu tun, was mit mir passiert. Dabei wäre Krankenhaus ein guter Ort, um zur Ruhe zu kommen und später in einem überschaubarerem Rahmen zu lernen, zu üben, wie kann ich als Mensch so viel dabei sein, wie ich es aushalte und trotzdem eine Idee von Autonomie behalten. Wie erkenne ich, wie steuere ich selbst, was mit mir passiert? Wie übernehme ich die Regie in meinem Leben und trage die Konsequenzen…?
Kontakt zu Menschen ist lebensgefährlich geblieben für mich nach wie vor, weil ich schnell verloren gehe, mich nicht mehr unterscheiden kann. Und gleichzeitig sehe ich, dass nur durch die Resonanz zum Mitmenschen das Dasein warm und lebendig wird. Es ist eine ständige Anstrengung dazwischen zu balancieren. Kontakt zu Menschen muss ich dosieren, weil er mich oft verwirrt, ich verloren gehe. Ich wünschte mir, ich könnte gefahrloser Beziehungen pflegen, aber ich habe verstanden, dass es in diesem Leben vielleicht nicht mehr geht. Und bei allem: mein Leben gehört jetzt mir. Und das ist mir trotz Einschränkungen das Wichtigste.
Die 3. Säule meines Lebens ist Arbeit. Ich habe sehr früh begriffen, ich brauche was im Außen, ich brauche etwas, was sich nicht nur mit mir selbst beschäftigt. Ich habe immer gearbeitet, wenn ich nicht in der Klinik war. Ich habe versucht, wegzukommen von mir und meinem Irrsinn, habe versucht, etwas dazwischen zu stellen, anderes zu überprüfen, der Welt handelnd zu begegnen… Arbeit hat mich gerettet. Ich glaube, Arbeit/Beschäftigung ist eine Chance, der Welt auf eine Weise zu begegnen, die die Welt verkleinert und so die Illusion verschafft/die Idee vermittelt, für diesen Moment sinnvoll in seiner Existenz zu sein. Außerdem bezieht man sich auf etwas Drittes, wird erwartet und trägt etwas bei. Es rehabilitiert zu spüren, ich kann was, ich habe auch etwas in mir, was die Welt braucht, ich bin nicht nur krank.
Psychose ist natürlich keine reine Hirnstoffwechselstörung, sondern hat mit der Biographie und der Welt, in der wir leben, zu tun. Ich habe eine langjährige, zuverlässige und unentrinnbare Traumaerfahrung. Ich habe auf äußerst irritierende und schreckliche Umstände mit einer Verstörung reagiert. Aber ich habe das überlebt. Um das zu überleben, braucht man viel Kraft, mit der man erst mal, wenn die Gefahr vorüber ist und das Leben schön werden könnte, nichts anfangen kann. Ich habe inzwischen bedingt gelernt, meine Kraft positiv einzusetzen, vor allem zu erkennen, dass ich auswählen kann. Es wäre für mich hilfreich gewesen, wenn die Psychiatrie sich für mich als Mensch, für mein So-geworden-sein interessiert hätte. Es ist beruhigend zu erkennen, es gibt Gründe, warum ich so bin wie ich bin. Dann bin ich nicht grundsätzlich falsch und vor allem kann ich mich weiterentwickeln. Ich kann mich aber nur von da weiterentwickeln, mein Leben in die Hand nehmen, wenn ich mich erkenne.
Psychose ist für mich eine sehr individuelle Antwort auf das Leben, ist ein Versuch, Erfahrungen zu übersetzen, einen unaushaltbaren Konflikt zu lösen und gleichzeitig in einer Welt mitzumachen, deren Regeln man nicht wirklich versteht. Es ist die andere Seite vom Erstarren, die auch eine mögliche Reaktion ist. Die Welt müsste eigentlich anhalten in diesem Zuviel. Aber es geht alles immer weiter, schneller mehr. Ohne dass ich mitkomme, mich begrenzt spüren kann als feste widerstandsfähige Masse. Natürlich ist Psychose so unterschiedlich wie die Menschen, die diese Diagnose haben. Ein übergeordnetes Thema sind glaube ich Grenzen und das Thema, wie vereinbare ich mein Bedürfnis nach Dazugehören und Einzeln bleiben, meine Silhouette schützen, ohne verloren zu gehen, mit dem Sehnen nach Aufgehobensein in dieser Welt.
Heute bin ich Genesungsbegleiterin im UKE in Hamburg mit Leib und Seele. Ich arbeite dort seit fast sieben Jahren. Ich empfinde Solidarität mit den Menschen, die kommen.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass jeder Mensch, wenn er einen Zipfel seines Lebens in die eigene Hand nimmt, genesen kann. Egal, was er für eine Prognose hat. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, dass schlechte Prognosen verboten werden müssten. Sie entmutigen den Anderen und sie bemächtigen sich ungerechtfertigt der Perspektive eines anderen Menschen. Ich ermutige die Menschen, nicht gegen sich zu kämpfen, sondern, sich für das Eigensein stark zu machen.