Ein Erfahrungsbericht, in dem ein langer Weg beschrieben wird, der noch nicht zu Ende gegangen ist. Unzufriedenheit mit dem Körper mag ein Problem darstellen, doch die eigentliche Problemzone ist der Kopf.
Also hauptsächlich. Durch Social Media habe ich in der Theorie viel darüber „gelernt“, wie Selbstliebe, -akzeptanz, -neutralität und ähnliches funktionieren könnte.
Übungen, um die Denkstruktur zu verändern. Sowas wie: „Am Ende des Tages wird man sowieso im Schnitt weniger für das Äußere als für das Innere gemocht und am Grab sagt auch niemand etwas über die Optik“.
Viele Menschen sind während des Lebens so oberflächlich, natürlich hat man zu diesem Thema am Grab nichts mehr zu sagen. Da ist das plötzlich respektlos, denn der Körper ist ja jetzt leblos.
In dem Fall kann man nur noch etwas über die schönen Seiten der Persönlichkeit und des Charakters loswerden, Dinge, die man immer geschätzt hat, aber entweder erst jetzt klar geworden sind oder aus anderen Gründen nie ausgesprochen worden sind.
Ich habe mich lange gefragt, ob ich erst ins Grab muss, damit andere Leute das bemerken und nicht nur das, was an mir zu viel ist.
Mehr als zwei Drittel meines Lebens war meine Sicherheit die, täglich aufs Neue entweder durch Mobbing, physisch, psychisch oder sexuell Gewalt zu erleben.
Ursprünglich aus dem einfachen Grund, anders zu sein. Körperlich behindert.
Offensichtliche Deformationen.
Wie auch immer.
Jedenfalls habe ich dadurch sehr früh den Gedanken in meinem Kopf verankert, dass ich lieber keine Fragen stellen sollte, keine Bedürfnisse äußern sollte, und Emotionen nicht haben sollte.
Mit der Einstellung kommt wirklich wenig aus dem Mund eines Menschen. Im besten Fall habe ich mir selbst einfach keine weiteren Gedanken gemacht, egal wie wenige Ansichten der Anderen ich verstanden habe.
Jeder andere Mensch war fitter und lauter als ich. Ganz egal, ob mit 5, mit 9 oder mit 16 Jahren.
Auf die Art wollte ich nicht ich sein. Ich war nicht ganz alleine.
Es war nicht so, als hätte ich gar keine Freunde gehabt. Das Gefühl, alleine zu sein entstand eher aus Einsamkeit. Ich konnte nämlich nicht mit ihnen darüber reden, was wirklich in meinem Kopf vorgeht.
Wenn ich es versucht habe, wurde ich belächelt. Wenn durch irgendeinen nicht komplett durchdachten Umstand eine Wahrheit von mir ans Licht kam, sind sie gegangen. Ich war die Lügnerin. Aber eigentlich habe ich einfach nur nicht geredet. Mit dem Alter verändert sich ein Körper und ich hatte also niemanden, um mögliche Auswirkungen zu besprechen.
Dafür hatte ich viele, die mich ausgelacht, beschimpft, angespuckt und anderes gemacht haben, wenn es zu spät war. Inzwischen finde ich das ziemlich unkonstruktiv. Früher fand ich mich zu viel. Ich hab es mit mir selbst ausgeschwiegen und bin dabei in Selbstzweifeln versunken, hab mich selbst gehasst und körperlich und/oder psychisch selbst geschadet.
Das hat nicht nur sichtbare Narben hinterlassen. Ich dachte, es geht jedem so wie mir. Natürlich war mir klar, dass ich eher ein Einzelgänger war und auch, überhaupt der Fakt, eine Behinderung zu haben, nicht üblich in meiner damaligen Umgebung war.
Aber ich dachte, sie handeln und denken wie ich, kommunizieren untereinander wie mit mir.
Ja, das widerspricht sich.
Nein, ich war nicht reflektiert genug, um das zu erkennen.
Erst nachdem ich das komplette Umfeld gewechselt habe und es mir schlagartig tatsächlich sehr gut ging, kam die Erkenntnis. Und die Überforderung darüber. Es brauchte lediglich minimale Trigger und ich hatte Nervenzusammenbrüche und dissoziierte. An sich nichts neues, aber zum ersten Mal in meinem Leben war das nicht mein Dauerzustand und ich habe mich die folgenden 2,5 Jahre auch sehr schnell jedes Mal davon erholen können.
Bis ich plötzlich, sowohl familiär als auch in meiner neuen Umgebung retraumatisiert wurde, womit ich nicht gerechnet habe. Stressbedingt nahm ich ab und das tat mir gut.
Zuerst, dass mir das Laufen leichter fiel und mein Rollstuhl mehr zur Dekoration wurde. Später vor allem, dass ich weniger fühlte, was Emotionen betrifft.
Ich hörte auf zu Essen und kam nur wenige Wochen später das erste Mal schwer depressiv in eine Klinik. Da ich leichtes Übergewicht hatte, durch verschiedene Medikamente und Erkrankungen nur sehr langsam abnahm und es dem Personal nicht wichtig war, fiel mein Essverhalten nicht auf. Ich war mir sicher, dass ich es unter Kontrolle hatte und machte weiter. Auch in Zeiten, in denen es mir besser ging, wurde es nur phasenweise mehr.
Mein wirklich gutes Empfinden kam nur selten zurück, obwohl mein Umfeld am gleichen Ort mit anderen Menschen wieder zu meiner Sicherheit wurde.
Augenscheinlich wurde alles wieder besser. Die Lösung, das zur Realität zu machen, wäre so einfach. Aber meine Problemzone ist mein Kopf und das Ganze hat mich unter Kontrolle, nicht andersrum.
Klar, ich habe viele enorme Fortschritte gemacht. Meine körperliche Behinderung schränkt mich ausschließlich körperlich ein.
Das beinhaltet zwar viele Dinge, die mich aber längst nicht mehr in meiner Einstellung beeinflussen. Dem Impuls vieler destruktiver Verhaltensweisen gehe ich nicht mehr nach.
Manch anderen weniger häufig und/oder weniger schädlich. Manche werde ich trotz etlicher Versuche nicht los.
Dazu gehört, mir täglich das Gesicht und andere Partien meines Körpers aufzukratzen, was mich etwa seit meinem 10. Lebensjahr begleitet und zu Entzündungen, Akne und sogar Operationen führt.
Auch Dissoziationen, Panikattacken, mein Essverhalten und situationsbedingtes destruktives Verhalten sind nach wie vor ein Thema, aber inzwischen kein unbekanntes.
Bis Anfang 2021 war ich etwa 1,5 Jahre konstant in dem Gefühl, durch meine Unterstützung künstlich am Leben erhalten zu werden. Für mich waren es weitere 1,5 Jahre, die ich überwiegend mit Existenz vergeudet habe.
Die meiste Zeit davon verbrachte ich in Kliniken, in verschiedenen Settings habe ich unterschiedliche Therapien durchgemacht.
Außerdem bin ich seit sechs Jahren in ambulanter Therapie und werde seitdem auch auf unterschiedlichen Arten betreut.
Das ist eine wichtige Grundlage, die mir aber ohne mein sonstiges Umfeld nicht viel bringen würde. In meinem Freundeskreis spielt nichts am Körper eine Rolle. Es wird weder dramatisiert, noch romantisiert.
Meine Freunde und der übrig gebliebene Teil meiner Familie sind meine Sicherheit, in der ich wachsen und mich zeigen kann, wie ich bin.
Darin bin ich noch nicht so gut, weil meine Problemzone, wie wir inzwischen wissen, nach wie vor mein Kopf ist, aber ich bin auf dem richtigen Weg. In dem Kreis kann ich die Theorie in die Praxis umsetzen, dass es wichtigeres gibt, als das Aussehen oder körperliche Fähigkeiten.
Ich bin nicht zu viel und ich muss auch nicht ins Grab, damit andere Leute hinter die Fassade blicken.
Ich habe die volle Möglichkeit, mich selbst für das zu akzeptieren, was ich bin und was ich kann und mich mit einem gesünderen Verhalten mir und anderen gegenüber besser kennenzulernen. Für mich einzustehen, ohne mich zu rechtfertigen. Zu sprechen, wenn mir danach ist. Zu schweigen, wenn nicht. Dinge nicht nur mit mir selbst auszumachen, ohne eine Belastung zu sein. Meinen Körper als notwenige Grundlage für das Ganze zu betrachten und ihn dafür zu schätzen, was er kann.
Genau wie ich ist auch mein Körper nicht zu viel, sondern okay und ich arbeite daran, mir diese Aussage selbst zu glauben und auch mehr, aber auch weniger von beidem das Okay-Sein nicht einschränkt, solange es nicht schädlich ist.