Es ist gelungen, für diese Reihe hochkarätige Referent_innen zu gewinnen, die in diesem Thema bundesweit anerkannte Expert_innen sind. Die Auftaktveranstaltung hat Dr. med. Volkmar Aderhold (Arzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin) eingeleitet zum Thema: „Neue Erkenntnisse aus der Neuroleptikaforschung“. Desweiteren sprach der Diplomsozialpädagoge Dr. phil. h. c. Peter Lehmann als langjähriges Mitglied im Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener – international vernetzt und Träger des Bundesverdienstkreuzes – zum Thema Peerarbeit und Recovery.
Über den Vortrag von Prof. Dr. Uwe Gonther, ärztlicher Direktor im Ameos Klinikum Dr. Heines, Bremen, möchte ich nun berichten:
Über das Reduzieren und Absetzen hat Prof. Dr. Uwe Gonther referiert. Er hat aus klinischer Perspektive geredet und von seinen eigenen Erfahrungen als Arzt.
Ihm ist es wichtig, die Literatur zu kennen, wenn man über dieses Thema redet.
Eine kleine Auswahl hat er mitgebracht und vorgestellt…
So auch ein Buch von Peter Götzsche, einem dänischen Medizinforscher. Er war Direktor des Nordic Cochrane Centers in Kopenhagen. 2010 wurde er zum Professor ernannt. Die genannte Institution ist unabhängig von pharmaindustriellem Einfluss. Das Buch von Peter Götzsche hat den Titel „Tödliche Psychopharmaka und organisiertes Leugnen“. Hier ist er zu dem radikalen Ergebnis gekommen, dass es praktisch für alle Medikamente in der Psychiatrie keine ausreichenden Wirknachweise gibt, und dass die Risiken und Nebenwirkungen viel größer sind als die Öffentlichkeit weiß. Er empfiehlt, den Beipackzettel zu lesen und aktiv beim verschreibenden Arzt nachzufragen.
Dann wurden die Bücher von Peter Lehmann, Verleger, Medizinjournalist, Versandbuchhändler und Verfechter der humanistischen Antipsychiatrie, vorgestellt.
Desweiteren wurde das Buch „Unglück auf Rezept“ von Sabine und Peter Ansari mit dem Untertitel „Die Antidepressiva-Lüge und ihre Folgen“ erwähnt.
Zum Buch von Dr. Kelly Brogan „Die Wahrheit über weibliche Depression – Warum sie nicht im Kopf entsteht und ohne Medikamente heilbar ist“, meinte Dr. Gonther, dass Frauen am meisten Antidepressiva verschrieben werden. Es sind zum größten Teil Männer, die verschreiben und verordnen.
Weiterhin wird das Buch von den Autoren Jann E. Schlimme, Thelke Scholz, Renate Seroka mit dem Titel „Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen“ aus Betroffenensicht und die Autorin Laura Delano, USA, vorgestellt. Sie nennt sich selbst Psychiatrieüberlebende bzw. Entzugsüberlebende. Von ihr kann man lernen, wie schwierig das Absetzen von angeblich harmlosen Medikamenten ist. Sie sieht es als ihre Mission an, durch die Welt zu fahren und darüber zu berichten, wie vorsichtig man absetzen sollte aus ihrer Sicht. Es sei wichtig, Menschen nicht in Absetzsyndrome zu versetzen, dann ist alles schlimmer, als es vorher war. Besonders die letzten Schritte beim Absetzen seien sehr schwer.
Es wird ein Hinweis auf das DSM-5, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen gegeben. Dies ist ein weltweit etabliertes Klassifikationssystem für psychische Störungen. Dort findet man Absetzsyndrome verortet und definiert zum Nachschlagen.
Wenn eine anerkannte Diagnose vorliegt, ist es möglich über die Krankenkassen, Unterstützung beim Absetzen der Medikamente zu bekommen.
Laut Gonther haben viele Menschen über Absetzsyndrome bei Antidepressiva berichtet, einige fühlen sich so, als würden sie Stromschläge beim Absetzen bekommen. Andere erleben verschiedene Arten psychischer Veränderungen wie Angsterscheinungen, Unruhe, bis hin zu psychosenahen Erlebnissen. Auch Aggressionen und Depressionen können auftreten sowie Selbstmordgedanken. Diese Zustände seien schwer zu trennen von den ursprünglichen Intentionen, warum Menschen die Medikamente genommen haben.
Eine Broschüre zum Thema „Absetzen“ von der DGSP (Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.) spricht er an.
Insgesamt 50 – 60% der Patient_innen in der Psychiatrie bekommen Antidepressiva und Neuroleptika, z.B. bei der Diagnose Borderline oder Traumafolgestörungen. Viele haben mehrere Diagnosen, die inhaltlich jedoch kaum voneinander zu trennen sind, also z.B. Borderline, Depressionen, Traumafolgestörungen usw., erzählt Uwe Gonther.
Somatische Zustände, Zwänge, Angststörungen, Schlafstörungen… jede Störung kann laut psychiatrischen Leitlinien mit einem extra Präparat behandelt werden. So wird es in der gängigen Praxis gemacht, deshalb kommt es oft vor, dass man vier oder mehr Medikamente bekommt.
„Es gibt das Grundgesetz der Heilkunst der Ärzte, welches besagt, dass wir den Patienten keinen Schaden zufügen dürfen“, sagt Uwe Gonther.
Ärzt_innen sollen sich damit beschäftigen, was die Heilmittel für Schäden anrichten können, das Bewusstsein dafür schärfen, was für Substanzen in Gebrauch seien.
Dann berichtet er von Patient_innenrechten, z.B. dem Gesetz von 2013, in dem steht, dass die Ärzt_innen über mögliche gesundheitliche Schäden aufzuklären haben.
Die Betroffenen sollten unterschreiben, dass sie aufgeklärt wurden. Wie sieht die Praxis aus? Wo wird das gemacht?
Es hat Monate gedauert, bis die Rechtsabteilung der Ameos-Klinik geprüft hatte, wie eine schriftliche Aufklärung durchgeführt werden sollte, was überhaupt der Sinn der Behandlung mit Medikamenten ist. Der Text stellt die wichtigsten Medikamentengruppen mitsamt Risiken und Nebenwirkungen leicht verständlich vor. Im Ameos Klinikum Dr. Heines in Bremen bekommen die Patient_innen inzwischen diesen Aufklärungsbogen bei Neuverordnungen. Einige Patient_innen reagieren erschrocken auf den Bogen, erzählt er.
„Wir reden hier nicht nur über Medikamente, sondern auch über die Psyche, ein sehr zartes Gebilde, ein komplexer Kommunikationsvorgang, etwas, das sich zwischen Personen entwickelt.“
„Es ist wichtig, im Bewusstsein zu behalten, wie empfindlich die Psyche ist.“
Dr. Gonther ist der Meinung, dass die Psyche ein schwirrendes kommunikatives Verhältnis ist – man kann auch sagen: ein Gewirr aus Kommunikation – und in diese Psyche greifen wir ein mit Substanzen, die im Grunde dazu da sind, Komplexität (= Vielfalt) zu reduzieren. Keiner wisse, wie die Wirkstoffe in den Psychopharmaka tatsächlich wirken.
„Aus einem psychischen Problem definieren wir psychische Krankheiten, als bestimmte Syndrome und fast reflexartig ist es heute so, dass Medikamente die Antwort sind,“, meint Dr. Gonther, „ohne die Lebensgeschichte oder den genauen Wirkmechanismus der Medikamente auf die individuelle psychische Situation zu kennen.“
Neuroleptika und Antidepressiva sind Substanzen, die intensiv in den Hirnstoffwechsel eingreifen, diesen verändern. Es sind keine Placebos, wenn auch manches an ihrer Wirkung durch die Placebo-Wirkung verständlicher wird. „Wir machen als Ärzte noch zu viel Schnellschüsse.“, sagt er. Viele Menschen erleben eine körperliche Gewöhnung an diese Substanzen und werden die Medikamente womöglich nie wieder los. Das kann schon nach ein paar Wochen einer Medikamenteneinnahme so laufen. Das ist schlimm, es sei wichtig, darüber zu reden, meint er.
‘Bestimmte psychiatrische ambulante Leistungen‘, sagt Helmut Thiede, der Geschäftsführer der Gapsy in Bremen, ‘sind seitens der Krankenkasse an Medikamenteneinnahme gekoppelt. Wenn der/die Patient_in regelmäßig zwei Quartale im Jahr ein Neuroleptikum eingenommen hat, erlaube die Krankenkasse eine ambulante Behandlung.‘
Betroffene können sich in Behandlungspläne von Krankenhäusern oder Ärzten eintragen lassen, dass sie Medikamente absetzen möchten. Die Gesundheitspolitik und die Krankenkasse sollten das Absetzen unterstützten.
„Bei vielen psychischen Erkrankungen ist der Verlauf besser, wenn Medikamente nicht dauerhaft genommen werden.“ Ein Satz wie dieser, räumt Herr Gonther selbstkritisch ein, sei nicht unumstritten. Das gelte für einige seiner Aussagen. Jedoch: „Alles, was ich sage, kann ich aber anhand von Literatur belegen und es stimmt auch mit meiner klinischen Erfahrung überein.“
Psychopharmaka greifen in den Hirnstoffwechsel ein, wie z.B. den Dopamin-Haushalt oder auch Adrenalin, Histamin, Serotonin. Es finden Veränderungen in den Funktionen der Synapsen statt. „Wir stören dadurch hoch komplizierte Abläufe, wir erschaffen in diesem System eine Unterbrechung.“ Das Selbsterleben des Betroffenen verändere sich dadurch erheblich.
Durch die Unterbrechung werde kein Defekt behoben, wie oft geworben werde, sondern es fänden Veränderungen statt, die dann in der Folge so etwas wie einen inneren Perspektivenwechsel erleichtern. So werde aus einem psychischen Problem künstlich ein körperliches Symptom erzeugt. Das kann bei ängstlichen, depressiven und/oder verzweifelten Personen eine große Hilfe bedeuten – für eine gewisse Zeit.
Wenn es aber zum Beispiel um die Inhalte eines Wahns gehe, herrsche bei vielen Profis in der Psychiatrie die Meinung vor, ein Wahn lasse sich nicht besprechen. Dr. Gonther ist der Meinung, dass man über die Inhalte eines Wahns sehr wohl sinnvoll reden kann, z.B. über metaphysisches (= übernatürlich, übersinnlich) oder spirituelles Erleben, was in einer Psychose offenbar wird.
„Oft unterdrücken wir durch Medikamente Gefühle, der inhaltliche Gehalt der Wahrnehmung bleibt aber da. Nur die Affektivität (= Gesamtheit des Gefühls- und Gemütslebens) wird verändert, gedämpft und dadurch im besten Fall besser erträglich.“
Man kann einen Wahn nicht weg bekämpfen; in der seelischen Realität der Menschen bleibt er nach der Erfahrung Dr. Gonthers wie ein Zimmer, was vielleicht nicht mehr bewohnt wird, aber noch da ist im Haus der Seele. „Und wo es möglich ist, wenn wir uns trauen, gemeinsam mit dem Betroffenen in dieses Zimmer hinein zu gucken, dann kann das Gespräch den Menschen erheblich voran bringen.“ Die alte Vorstellung, dass Wahninhalte nicht nachvollziehbar sind, hält Gonther für grundsätzlich falsch.
Eine Psychose habe immer eine biographische (= lebensbeschreibende) Bedeutung und wenn es gelänge, da im Gespräch hinein zu steigen, sei Verständigung und sogar Verständnis möglich. Dazu brauche es vor allem Geduld sowie verschiedene menschliche und therapeutische Fähigkeiten, vielleicht auch Talent. Etwas Glück gehört auch immer dazu und vor allem die Hoffnung der Betroffenen und ihrer Angehörigen, dann kann Genesung gelingen.
Es brauche verschiedene Angebote, um die inneren Rätsel im Psychoseerleben zu übersetzen und verständlich zu machen. So wie das auch die Betroffene Dorothea Buck gemacht hat. Sie war maßgeblich in der Bewegung der Psychiatrie-Erfahrenen aktiv und ist Mitbegründerin des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener (BPE) e.V. 1989 hat sie mit Thomas Bock das erste Psychose-Seminar in Hamburg gegründet.
„Wenn wir gemeinsam in der Behandlung auf einem guten Weg sind, reden wir nicht nur über Medikamente, sondern über seelische Inhalte.“
Peerarbeit
Abgeleitet vom englischen „peer“ (gleichgestellt, ebenbürtig), bezeichnet dieser Begriff die Zusammenarbeit von Personen mit ähnlichen Lebenserfahrungen – zum Beispiel psychische oder körperliche Erkrankungen, Lebensstile oder Alter.
Recovery
Bedeutet übersetzt „Genesung“. Im psychiatrischen Kontext ist hiermit ein Behandlungskonzept gemeint, welches sich auf die Stärkung und Wiederherstellung von Befähigungen und Selbstständigkeit konzentriert.
Zum Weiterlesen…
Peter Lehmann
2013, “Psychopharmaka absetzen
Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern“ (19,90 €)
Uwe Gonther
2019, “Irren ist menschlich Kapitel 5
Der sich und Andere fremd werdende Mensch (Schizophrenie) Reihe“ (10,00 €)
Peter C. Götzsche
2016, “Tödliche Psychopharmaka und organisiertes Leugnen – Wie Ärzte und Pharmaindustrie die Gesundheit der Patienten vorsätzlich aufs Spiel setzen“ (24,99 €)
Sabine Ansari, Peter Ansari
2017, “Unglück auf Rezept – Die Antidepressiva-Lüge und ihre Folgen“ (16,95 €)
Jann E. Schlimme, Thelke Scholz, Renate Seroka
2019, “Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen“ (25,00 €)
Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
“Neuroleptika reduzieren und absetzen“
Eine Broschüre für Psychose-Erfahrene, Angehörige und Professionelle aller Berufsgruppen.
Entweder gegen Schutzgebühr von 2,00 € zzgl Versand oder kostenlos downloaden unter:
dgsp-ev.de/veroeffentlichungen/broschueren.html
Dorothea Buck
2016, “Auf der Spur des Morgensterns, Psychose als Selbstfindung“ (21,95 €)