Autor:in: Professor TiFtOf 

Praktikums-Erlebnisse eines „etwas zu hoch” ambitionierten Genesungsbegleiters

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1: Sanatorium Kilchberg, Zürichsee, Schweiz

Mit großem Enthusiasmus gestartet, verebbte meine Begeisterung ab der Hälfte der Zeit täglich. Es brauchte einen großen Teil meiner Kraft damit klarzukommen, dass ich nicht in dem gewünschten Maße in Kontakt treten konnte. Das lag fast ausschließlich an der Vorgabe durch die Stationsleitung und Teammitgliedern, die mich unterschiedlich ausbremsten. Ich empfand besonders tiefe Empathie für zwei Patienten, konnte aber keineswegs so frei agieren, wie zuvor während des Praktikums in der Akutstation.

Vier Highlights gab es:

– Ein intensives Gespräch mit dem dort in leitender Funktion tätigen Gianni Zuaboni, der als Pionier für die aktuelle Recovery Arbeit in der Schweiz gelten kann.
– Die Kooperation mit meiner direkten Kollegin, einer Genesungsbegleiterin (in der Schweiz: Peer).
– Erfahrung des Regelwerks im Tagesgeschäft einer hoch angesehenen Klinik mit Tradition in der Schweiz.
– Austauschgespräche mit der Peer Beraterin.

2: Klinikum Bad Salzungen, kombiniert psychiatrisch und psychosomatische Tagesklinik

Die schlimmste Erfahrung von allen, wo von Anfang an alles schief ging, was nur schief gehen kann. Die leitende Ärztin war auf Fortbildung und wurde von einer Pflegekraft aus dem Team vertreten. Bereits mein Vorstellungsgespräch war ein Fiasko und leider bewahrheitete sich meine Erwartung, dass ich keine gute Erfahrung machen würde. Die Zusammenarbeit mit der stellvertretenden Leitung war nahezu unmöglich, weil ich unter sehr hohem Druck stand. Ich fühlte mich meistens „gerade mal geduldet“ und alles andere als willkommen. Ich bekam schnell den Eindruck, mich zur falschen Zeit am falschen Ort zu befinden, was schließlich zu zahllosen Missverständnissen führte und zu einer noch höheren Spannung. Aber auch hier gab es wichtige Erfahrungswerte: Es gab ein sehr offenes Gespräch zwischen mir, der Stationsärztin und der Chefärztin der gesamten Psychiatrie, unter deren Fittichen ich auch schon beim Praktikum in der Akutstation gestanden hatte. An dem Tag war bei mir die Hoffnung aufgekeimt, von nun an könne alles anders und sehr positiv weiter verlaufen, dass ich frei agieren könne, was sich aber leider nicht bewahrheitete. Es gab für mich die Möglichkeit, an zwei Gruppen teilzunehmen, die von sehr kompetenten Kräften angeleitet worden waren (in einem Fall die Psychologin der Station) und ich konnte deren effektive Arbeitsweise gut beobachten.
Die Psychologin beispielsweise konnte so vorbildlich aktiv zuhören, dass sie das volle Vertrauen aller Patienten genoss.

3: Seniorenbegegnung – Tagesstätte „Herbstsonne“, Bad Salzungen

Hier beginne ich mit den Highlights: Ich konnte auf Anhieb, durchgängig bis zum letzten Tag einen intensiven Kontakt zu den Senioren herstellen. Es gab sehr viel zu lachen und interessante Gespräche. Im Privatleben nehme ich seit Jahren den Kontakt zu älteren Menschen auf, um aus ihrer Lebenserfahrung zu lernen und in Ihnen, gemäß alter Traditionen (Indianerkultur), die Älteren zu ehren.
Ich habe „Frage & Antwort Spiele“ angeleitet, Spaziergänge begleitet, einfach nur fröhliches Beisammensein genossen. Am letzten Tag wollte mir eine Seniorin ihr wunderschön gestaltetes Fotoalbum zeigen – leider kam es nicht mehr dazu, weil mich eine Order weg leitete zum Kopieren. Das war eins der vielen Schlüsselerlebnisse, weshalb ich schließlich am nächsten Morgen kündigte. Die Zusammenarbeit im Team war, nachdem sie sehr harmonisch gestartet war, zunehmend von vollständig unterschiedlichen Vorstellungen geprägt, wie mit älteren Menschen umzugehen sei
In einer Angelegenheit, wo eine andere Praktikantin intensive Arbeit vorgeleistet hatte, war ich im Rahmen meines dortigen Praktikums mehr stiller Beobachter, als aktiver Teilnehmer: Sie hatte bereits vor geraumer Zeit damit begonnen, mit einigen der Senioren ein Theaterstück einzustudieren, welches bei einer Jubiläumsveranstaltung in einer Schule öffentlich dargeboten wurde.

4: Hospitationen in einer Thüringer Regelschule im Rahmen des Projektes „Verrückt! Na und?“ des Vereins „Irrsinnig menschlich“, Leipzig

Hier fühlte ich mich am meisten integriert und in ein hierarchiefreies Team eingebunden. Ich geriet am zweiten Tag direkt an meine Grenzen. Es bestand die Gefahr einer Retraumatisierung, aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen in der Schulzeit. Das Alter der Neuntklässler war identisch mit meinem, als meine erste Depression im Leben auftauchte, die ich systematisch mit unterschiedlichstem Ausleben meiner Suchtstruktur zu kompensieren versuchte. Während der Tage in der Schule konnte ich aber problemlos gegensteuern, sogar ohne Reflektionsgespräch mit einem Teammitglied. Am Ende einer dieser Tage war das definitive Highlight die Schilderung eines anderen Experten aus Erfahrung, der seinen Lebensweg skizzierte, was von den Schülern und mir äußerst empathisch & emotional miterlebt wurde.

Was bleibt hängen?

1: Sanatorium Kilchberg, Zürichsee, Schweiz

Ich hatte hier fast freie Hand in der Gestaltung meines Praktikumstages. Interessant war, dass ich einer professionell arbeitenden Genesungsbegleiterin über die Schulter schauen konnte. Eine weitere Besonderheit war die Möglichkeit zur Teilnahme an den Teamsitzungen, wo höchstwahrscheinlich hierzulande noch einige Zeit ins Land gehen muss, bevor das in modernen Psychiatrien zur Regel wird. So sehr ich mir das aber in der ersten Akutstation gewünscht hatte, so sehr befremdete es mich hier. Ich war mit einer sehr ausgeprägten Hierarchie konfrontiert, d1ie ich gerade dort nicht erwartet hatte. Da die Teilnahme freiwillig war, beschränkte ich mich auch auf ein einziges Mal. Highlights waren die Gespräche mit der stationsleitenden Klinikschwester. Im Vergleich zu den anderen Praktikumsstellen gewann ich den Eindruck, dass hier eine höchstmögliche gleiche Arbeitseinstellung vorliegen könne, was sich aber als Illusion erwies. Ich muss aber betonen, dass mir von besonders ihrer Seite viel Entgegenkommen erwiesen worden war, gemessen an den Auseinandersetzungen, die dann zunehmend mit einigen Mitarbeitern folgten. Irgendwann war aber ihr Handlungsspielraum wohl ausgeschöpft. Nach einem Dreiergespräch mit ihrem Vorgesetzten kam es zur vorzeitigen Auflösung des Praktikumsvertrags. Jenes Gespräch war aber von großer Fairness und Transparenz geprägt. Im Nachhinein bilanziere ich, dass der Arbeitsalltag in einer Schweizer Psychiatrie, hinsichtlich moderner Arbeitsweisen, wesentlich fortschrittlicher gegenüber unserem ist.

2: Tagesklinik

Nach dem sehr positiv verlaufenden Dreiergespräch mit der stationsleitenden Ärztin und der Chefärztin kristallisierte sich in einem privaten Reflektionsgespräch mit einer im psychiatrischen Kontext erfahrenen Krankenschwester eine Möglichkeit heraus, wie ich mich am besten einbringen könne: Ich könnte eine Selbsthilfegruppe initiieren für Patienten, die im Ankommens- oder Verabschiedungsprozess waren. Das war bereits vorher auch Idee gewesen, nachdem ich das letzte mal Patient in einer Psychiatrie gewesen war (2019). Ich hatte mit dem Leiter einer Begegnungsstätte in Bad Salzungen ernsthaft ins Auge gefasst, in seiner Einrichtung eine solche Selbsthilfegruppe aufzubauen. Das hätte mir sehr große Freude gemacht, weil ich jahrelange eigene Erfahrung in Selbsthilfegruppen sammeln durfte. In der Tagesklinik kam es aber leider nicht dazu, weil unglücklicherweise ein Streit mit der stellvertretenden Stationsleitung eskalierte. Es gelang mir sehr besonnen durch klare, aber höfliche Abgrenzung zu reagieren. Leider war die Gegenseite in keinster Weise dazu imstande und so kam es auch hier zur frühzeitigen deeskalierenden Trennung.

Was lernen wir daraus?

1: Sanatorium
Anfänglich schien ich sehr willkommen und die Einführung war professionell. Ich wurde über die normalen Abläufe und meine Zusammenarbeit mit der dort arbeitenden Genesungsbegleiterin informiert. Im Arbeitsalltag gab es aber reihenweise Abstimmungsschwierigkeiten und Missverständnisse.
Mir wurde an den vier Tagen pro Woche, an denen ich auf mich selbst gestellt war weitestgehend freie Hand gewährt. Es gab dort allerdings die für mich deutliche Einschränkung, dass ich mit den beiden „extremen Problemfällen“ der Station in äußerster Zurückhaltung kommunizieren möge. Das wurde mit dem Tragen der Verantwortung begründet und die bereits lange Vorgeschichte, zumindest im Fall eines Klienten und dessen vorherigen Aufenthalten auf der Station. Mein Handlungsspektrum wurde dadurch quasi auf Null reduziert, weil alle anderen Patienten relativ straff in ihr Programm eingebunden waren. Der anfängliche Raum für Reflexionsgespräche, begrenzte sich immer mehr bis hin zu einer Spaltung: Auf der einen Seite die feste Tagesstruktur sämtlicher Beteiligten – auf der anderen Seite ich – relativ isoliert. Dieses ungünstige Missverhältnis wurde nur noch in der Tagesklinik Bad Salzungen durch vollständige Nicht-Integration ins Team übertroffen. Ob es den verantwortlichen Kräften bewusst war, oder nicht – lasse ich dahingestellt. Im Endeffekt war es für mich eine wichtige Lektion: nämlich dass ich in Bezug auf eine zufriedenstellende Arbeitsweise in höchstmöglichem Maße in das Team integriert werden will, kann und muss.

3: Seniorentagesstätte

Die Hierarchie war in der Seniorentagesstätte am allerstärksten ausgeprägt und konnte dort nur funktionieren, weil zwei Mitarbeiterinnen der Chefin entsprechend handelten. Darin liegt eine gewisse Ironie, denn die leitende Kraft der Einrichtung war nicht professionell geschult, sondern, weil es sich um ein ursprünglich in Selbstinitiative entstandenes Projekt handelte, quasi durch Quereinstieg in ihre Position gekommen. Der Umgang mit den vorwiegend Demenzkranken war zwar herzlich geprägt, wurde aber durch viele Klischees und standardisiertes Verhalten zu einer Routinetätigkeit – meine persönlichen Vorstellungen von sinnvollem Umgang mit jenem Klientel wichen täglich mehr von den Vorgaben ab.

4: Hospitation

Zur Hospitationen möchte ich noch hinzufügen, dass ich mich aus beobachtender Position relativ häufig auch zu Wort meldete und ich mich dabei vollständig vom Team unterstützt erlebte. Den Schüler-Reaktionen zufolge – stießen meine Bemerkungen auch auf Resonanz. Insofern war diese Erfahrung auch eine weitere kleine Heilungssequenz in puncto eigener Salutogenese, die sich fortschreitend durch die ganze Qualifizierung zum Genesungsbegleiter und sämtliche Praktika hindurch zog.

5: Aufbaupraktikum

Hier schließt sich ein Kreis, denn chronologisch war das Praktikum in der Akutstation des Klinikums Bad Salzungen das erste von fünf! Im Nachhinein stufe ich es aber als Aufbaupraktikum ein, weil Stundenumfang und Inhalt der Bezeichnung gerecht werden. Die sehr gute Erfahrung fußte hauptsächlich darauf, dass ich eine Alleinstellung in den psychiatrischen Stationen der Klinik hatte und deswegen agieren konnte, wie ich es intuitiv für richtig hielt.
In den Reflektionsgesprächen mit der Chefärztin wurde die Art und Weise meiner Arbeit inhaltlich nicht kritisiert, oder in Frage gestellt. Es gab in den ersten drei Tagen erhebliche Schwierigkeiten, mich in das Team zu integrieren. Danach wurde es deutlich besser, ohne dass viel aktive Zusammenarbeit stattfand, weil der Arbeitsalltag in einer psychiatrischen Akutstation von großem Tempo oder Zeiten der absoluten Stagnation gekennzeichnet ist. Bei ersterem agierten meine Kollegen aufgrund langjähriger Berufserfahrung meist auf identische Art und Weise, ohne dass mein eigener Befugnisbereich dadurch eingeschränkt oder beeinflusst wurde. Stagnation gibt es auf einer Akutstation selten, aber wenn, verschwindet meist das komplette Pflegeteam im Stationszimmer und da ich auch zu den Teamsitzungen nicht eingeladen wurde, nahm ich auch nicht an diesen inoffiziellen Teamsitzungen teil. Stattdessen führte ich hoch motiviert, in hohem Tempo meine eigene Arbeit fort. Ich hatte intensiven Kontakt mit den Klienten und fühlte mich auf zwischenmenschlicher Ebene angenommen. Das bestärkte mein Handeln und führte am Ende des Praktikums dazu, dass ich bis heute (ein Jahr später) mit zwei der damaligen Patienten in lockerem Austausch stehe, für die ich weiterhin eine gewisse Verantwortung empfinde. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Nachsorge im psychiatrischen Kontext zu wünschen übrig lässt. Ich mache das quasi in meiner Freizeit, unentgeltlich und sehr gerne.
Ich hatte die Idee, durch das Mitbringen eines Tausend-Teile-Puzzles eine Schnittstelle zu schaffen, an der die Klienten in ihrer therapiefreien Zeit und außerhalb der Mahlzeiten Möglichkeit zur zwanglosen Begegnung hätten – auch mit mir. Das stieß zwar quantitativ nicht auf große Resonanz, dafür umso mehr auf qualitative. Es führte mich mit drei Patienten nach kurzer Zeit in sehr konstruktive Austauschgespräche – zwei der Betreffenden sind die oben genannten Patienten.
Mein wichtigstes Werkzeug war der Fragebogen zur Evaluation des Hoffnungslevels, den ich im Fundus des Qualifizierungs-Angebotes im Rahmen der Module auffand. Damit ging ich täglich auf die Patienten oder Neuankömmlinge zu, die sich damit noch nicht beschäftigt hatten. Am ersten Praktikumstag hatte ich das Formular vor versammelter Klienten-Belegschaft vorgestellt. Es gab drei Optionen: Der Fragebogen könne entweder nur ganz individuell, ohne meine Beteiligung, bearbeitet werden, im gemeinsamen Austausch mit mir, oder privat auf dem Zimmer mit anschließendem Gespräch. Das stieß auf Resonanz, so dass ich nach der ersten Woche tatsächlich mit einem Dutzend Patienten den Fragebogen zur beidseitigen Zufriedenheit bearbeitet hatte. Aufgrund der Freiwilligkeit beteiligte sich natürlich nicht jeder daran.
Wenn es sich ergab und von der Stationsleitung angeordnet oder zur Wahl gestellt wurde, machte ich regelmäßig mit allen anwesenden Klienten, entweder mit mir als verantwortlicher Person, oder auch mit einer oder zwei Kräften aus dem Pflegedienst-Team, Spaziergänge sozusagen einmal um den Block, nie länger als eine Stunde, aufgrund der Therapietermine und Mahlzeiten.
Zu Beginn bestand seitens des Stationsteams große Ratlosigkeit, was denn nun mit mir anzufangen sei, oder wie ich eingesetzt werden möge, denn die Chefärztin hatte mich mit all den Vorschuss-Lorbeeren Ihres Vertrauens, nach dem ausführlichen Vorstellungsgespräch, quasi ins kalte Wasser geschmissen. Die meisten meiner Arbeitskollegen im Rahmen des Praktikums hatten allem Anschein nach auch noch nichts von dem Berufsbild „Genesungsbegleiter“ gewusst, so dass ich relativ umfangreiches Infomaterial in einem extra Ordner im Pflegedienst Zimmer zur Verfügung stellte. Das aber unberührt in der gleichen Ecke stehen blieb. Das war für mich kein Wunder, ich habe ausreichend Erfahrung sozusagen auf der anderen Seite gesammelt, um das nicht allzu persönlich zu nehmen.
Meine Funktion wiederum erlebte ich als äußerst sinnstiftend im Nutzen für die Klienten: Ich wurde jeden Morgen von Klientenseite mit offenen Armen begrüßt und genoss unverhohlen meine Beliebtheit, weil ich, sofern mir das möglich war, die gleiche Liebe und Offenheit zurückstrahlte und gab. Was kann es für eine bessere Ausgangssituation für einen Genesungsbegleiter geben?
Im Grunde ist es aber sehr schade, dass die 08/15 Betriebsroutine einer durchschnittlich ambitionierten psychiatrischen Station in deutschen Gefilden bislang jeglichen Enthusiasmus eines einzelnen Genesungsbegleiters früher oder später zunichtemachen muss – es sei denn, mensch hat übermenschliche Kräfte. (Oder – ein Genesungsbegleiter erhält von einem Seminarleiter für den offenen Dialog die Information, dass das skandinavische Modell nun doch schon nach Deutschland durchgedrungen ist, nämlich nach Bremen! Dann ist der nächste Schritt natürlich die Bewerbung dorthin! : ))

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