Autor:in: Joachim Götz

Privatrezept

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Der Tag, an dem ich morgens erwachte,

und die Sonne sah, und Vögel singen hörte,

das war der Tag, an dem alles passierte,

mein Leben ablief,

vor meinen eigenen Augen,

während ich staunte,

fassungslos und gelähmt

 

das war der Tag, an dem ich versuchte zu überleben,

das war der Tag, an dem ich anfing zu existieren,

das war der Tag, an dem alle Glocken läuteten,

als Hintergrundmusik,

jedes mal, wenn wieder jemand starb,

und das Bestattungsinstitut sich die Hände rieb:

wieder was verdient!

 

Das war der Tag, an dem ich begann, mich zu fürchten

 

Ich fürchtete mich vor dem was kommen mochte

Ich fürchtete mich vor dem was war

Ich fürchtete mich vor mir selbst

fürchtete meinen eigenen Schatten,

studierte die Furcht wie kein anderer vor mir

 

fürchtete mich, über Wasser zu gehen,

fürchtete mich vor jeder Fassade, ahnend was dahinter war

 

im Bruchteil einer Sekunde, kann ich ahnen, dass das nicht alles war

im Bruchteil einer Sekunde erkenne ich Deinen Blick

im Bruchteil einer Sekunde sagst du mir mehr als tausend Worte

im Bruchteil einer Sekunde erkennst du mich

 

Der Tag, an dem ich morgens erwachte,

das war der Tag, der gestrickt wurde, während ich schlief,

auf dass ich mich verlöre,

in den laufenden Maschen,

um mich beschäftigt zu halten mit Unwichtigem,

auf dass ich mich kasteite,

zur Befriedigung all der Schaulustigen!

 

Der Tag, an dem ich morgens erwachte

war schön, und voller Anmut

es war wieder so ein Tag!

Ein Tag, den man eigentlich nutzen sollte,

einer, der wieder wie für mich gemacht war,

der jedoch verstrich,

wie jeder andere auch!

 

Wie jeder andere auch!

 

Klingeling! Klingeling, da kommt die Eisenbahn!

Sie bringt alle, alle die Verreisten an!

Passagiere auf der Durchreise von da nach da,

die mit leichtem Gepäck,

und die mit den schweren Koffern,

die mit dem qualitativ hochwertigen Versteck,

und die mit dem besonderen Dingsda!

 

Sie kamen und sie gingen,

zogen ihre Kragen hoch und waren in Eile,

nestelten nervös an ihren Portemonnaies,

und bemühten sich zu lächeln,

während die Sonne irgendwo unterging

 

während ich gelähmt staunte,

fassungslos und gelähmt,

und ich fragte: hey, was macht ihr da alle!,

doch alle kopfschüttelnd weitergingen,

wie gezogen durch eine unsichtbare Kraft!

 

Ich war so traurig an diesem wunderschönen Tag,

dass ein Ozean nicht gereicht hätte, meine Tränen zu fangen,

die dümmlich von meinen Wangen rannen,

dümmlich wie ich war,

an diesem wunderschönen Tag!

 

Der Tag, an dem ich morgens erwachte,

er hatte so viel Elektrizität in der Luft,

es musste einfach ein Gewitter kommen!

das den rissigen Boden aufweichen würde,

das den unverschämten Straßenrändern ihre längst bezahlten Rosen geben würde,

das den dümmlichen Männern ihre Nasen senken ließe,

das die Kinder mit den krummem Rücken endlich auflachen ließe,

das alle rennen ließe, die sich vor dem Blitz fürchteten,

 

sich zusammenkauernd in ihrem nicht bezahlten Heim,

ein Haus ist kein Heim, bevor es ein Zuhause ist!

 

Das war ein schöner Tag gewesen,

er ist nun verstrichen,

hat sich eingereiht in all die anderen,

wurde nie wieder gesehen,

es war ein schöner Tag!

 

Gewesen!

 

Am Straßenrand, am Straßenrand, da lagen Menschenkörper!

Verlassen von denen, die innerhalb des Randes liefen,

die ihre Nasen in den Himmel streckten,

die längst schon vergessen hatten, wer sie waren,

die ihren eigenen Gestank nicht mehr ertragen konnten,

während sie wegschauten, weil sie sich schämten,

sich grämten,

während kein Mensch wusste, warum sie das tun,

aber auch keiner sich traute, diese Frage zu stellen!

 

Das war so ein schöner Tag!

 

Wie jeder andere auch!

 

Wie jeder andere auch!

 

Jetzt sitz ich hier in meiner Kammer,

und hoffe, es geht dir gut,

ich möchte alle Sonnenstrahlen zu dir schicken,

dass sie dich wärmen mögen,

dass sie dir sagen mögen: dass dich jemand liebt,

und dass dies ein schöner Tag ist!

 

Für dich und mich!

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