Ein Rezept, das zur kostenlosen Teilnahme an VHS-Kursen berechtigt – dahinter verbirgt sich das Bremer Modellprojekt „Kunst auf Rezept“. Dabei sind zwei Behörden, die Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz und der Senator für Kultur beteiligt, die mit der Bremer Volkshochschule zusammenarbeiten. Bei dem Programm „Arts on Prescription“ (AoP), auf Deutsch „Kunst auf Rezept“ haben Teilnehmer:innen die Möglichkeit, an kreativen und partizipatorischen Kunst- und Kulturangeboten, wie kreatives Schreiben oder Malerei teilzunehmen, um ihre mentale Gesundheit zu stärken und soziale Integration zu fördern. Hintergrund ist die weltweite Zunahme von psychischen Problemen wie Stress, Depressionen und Angstzuständen, woraus ein wachsender Bedarf an der Entwicklung weiterer und unterschiedlicher Methoden zur Verbesserung der mentalen Gesundheit von Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen resultiert.
Projektleiterin an der VHS ist Hannah Goebel. „Dieses Angebot ist Teil des internationalen Interreg-Programms. Damit ist ein Förderprogramm gemeint, das von EU-Mitteln finanziert wird“, erklärt Goebel. ‘Arts on Prescription in the Baltic Sea Region‘ wird im Rahmen eines Programms der EU-Ostseeregion durchgeführt. Unter der Federführung von Dänemark beteiligen sich neben Deutschland auch Finnland, Lettland, Litauen, Polen und Schweden an dem Projekt, das von 2023 bis 2025 laufen soll. Für Deutschland nimmt Bremen als einziges Bundesland daran teil. „Das europäische Interreg-Projekt bietet die Chance, einen innovativen Ansatz zur Gesundheitsförderung und vor allem zur Prävention von psychischen Erkrankungen umzusetzen“, erläutert Lukas Fuhrmann, Leiter des Senatorinnenbüros der Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz.
Abier Saad, Genesungsbegleiterin, unterstützt die Projektleiterin Hannah Goebel an der VHS. „Wir laden jeden Einzelnen zu einem Beratungsgespräch ein und stellen das Programm ‚Kunst auf Rezept‘ vor und beschreiben die Kurse, die in Frage kommen“, so Saad. In der ersten Pilotphase, die von Oktober bis Dezember vergangenen Jahres stattfand, gab es Angebote wie Malerei, Zeichnen, Gesang und kreatives Schreiben. Die zweite Phase beginnt im April dieses Jahres und dauert bis Juni. „Das ist die Phase, in denen die Kurse stattfinden“, berichtet Saad. Jedoch würden jetzt schon die Beratungsgespräche geführt, um die Teilnehmenden anzumelden, erzählt Goebel. „Es gibt mehr Kurse als in der ersten Phase. Angeboten werden als Beispiele Improtheater, Töpfern sowie Plastizieren. Das Programm besteht aber nicht nur aus dem Besuch eines Kunstkurses, sondern auch einer Begleitgruppe. Darin geht es um Reflektion und Austausch“, erläutert Goebel.
Für dieses Projekt hat die VHS einige Arztpraxen angeschrieben. „Es beteiligen sich Hausärzt:innen, Psychotherapeut:innen und verschiedene Einrichtungen wie die Familienhilfe, Rehaeinrichtungen sowie psychosoziale Beratungsstellen“, erklärt die Projektleiterin.
„Kunst auf Rezept“ richtet sich an Personen ab 18 Jahren mit sozialen und emotionalen Belastungen wie Einsamkeit, Stress, Ängsten sowie Depressionen, bei denen anzunehmen ist, dass sie von der Teilnahme an künstlerischen Aktivitäten in der Gruppe profitieren können. „Eine psychiatrische Diagnose müssen die Teilnehmenden aber nicht unbedingt haben“, sagt die Genesungsbegleiterin Abier Saad. Das Projekt stärke das eigene Wohlbefinden, so Saad. „Und es kann therapiebegleitend unterstützen“, ergänzt Goebel.
„Die institutsübergreifende Zusammenarbeit ist eine Stärke des Projekts“, hält Lukas Fuhrmann fest. „So werden strategische Entscheidungen gemeinsam getroffen. Neben der praktischen Arbeit der Implementierung in Bremen, ist die Behörde dabei, das Konzept auch auf Bundesebene in verschiedenen Gremien zu bewerben, um das Wissen des präventiven Nutzens von künstlerischen Aktivitäten auch überregional zu erhöhen.“ Bremen übernehme dabei eine Vorreiterrolle, sagt Hannah Goebel. Ein vergleichbares Projekt gebe es in Frankfurt.
„Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, kurz WHO) hat die Evidenz des gesundheitsfördernden Effekts von Kunst und Kultur in einem Bericht zusammengefasst und ihren Mitgliedsstaaten empfohlen, diese Ressource zu nutzen und auszubauen“, berichtet der Leiter des Senatorinnenbüros Lukas Fuhrmann.
Das Besondere beim Bremer Projekt „Kunst auf Rezept“ ist, dass das Projekt einen inklusiven Ansatz verfolgt. „Menschen mit oder ohne psychische Belastungen werden gemeinsam künstlerisch aktiv“, hebt die Projektleiterin hervor. „So kann sich nicht nur das künstlerische Wirken, sondern auch die Teilhabe in der Gruppe positiv auf die mentale Gesundheit der Teilnehmenden auswirken.“
Dabei gibt es schon sehr viele positive Rückmeldungen einiger Teilnehmer:innen. „Im Gesangskurs hat eine Teilnehmerin sich getraut, vor der Gruppe alleine vorzusingen. Sie hat Mut aufgebracht“, berichtet Abier Saad. Im Kurs kreatives Schreiben habe ein Teilnehmer negative Gedanken als stärkend empfunden und will jetzt ein Buch schreiben, so Saad.
Seit Oktober des vergangenen Jahres beteiligt sich die AMEOS-Klinik in Bremen an dem Modellprojekt. Der Ärztliche Leiter, Prof. Dr. Uwe Gonther findet das Projekt „wichtig und zukunftsweisend“. „Ich wurde von den Projektleiterinnen gefragt, weil ich seit Jahren auch viel Wert auf Kunsttherapie in unserer Klinik lege“, berichtet Gonther. Bereits sechs Teilnehmende hat die Klinik vermittelt, aber deutlich mehr Rezepte ausgestellt. Gonther stellt fest, dass sich in den letzten Jahren mehr und mehr die Kunst in den Vordergrund der Reformpsychiatrie schiebe. „In der Kunsttherapie können die von psychischen Krankheiten praktisch eingeschränkten Personen das Handhaben ihrer individuellen Freiheit zur Mitgestaltung der jeweils eigenen Lebenssituation und Biografie erlernen oder wiederentdecken. Die Kunst stellt somit nicht nur eine angenehme Beschäftigung dar, sondern besitzt das Potenzial einer kausal wirksamen Therapie bei psychischen Störungen.“ Gonther versteht Kunst als „bewusste Darstellung der Auseinandersetzung des künstlerisch tätigen Individuums mit seiner Umwelt und der jeweiligen Innenwelt“.
In einem Aufsatz geht Gonther auf die Bedeutsamkeit von Kunst bei einzelnen Krankheitsbildern ein. So ist bei Menschen mit Demenz, die allgemeine Stimulation der Hirntätigkeit und die Ressourcenorientierung in Einzel- und Gruppensettings besonders bedeutsam. Bei Suchterkrankten steht im Vordergrund, dass Selbstwirksamkeit im künstlerischen Gestalten erlebt wird. Hinzu kommen die Möglichkeit der Reflexion der persönlichen Wertvorstellungen und die Möglichkeit, zurückliegende Traumatisierungen und Kränkungen mittels künstlerischer Medien zu thematisieren. In der Behandlung der Psychosen, aus dem schizophrenen Formenkreis und bei schizoaffektiven Psychosen, kann für die künstlerischen Therapien gerade präverbale und auch präreflexive Ausdrucks- und Darstellungsweise eine Hilfe bedeuten. Für die Behandlung der depressiven Syndrome ist im rezeptiven Bereich die Differenzierung von Wahrnehmung bedeutsam. Für Menschen mit Traumafolgestörungen, Ess-Störungen, Zwangsstörungen, Ängsten oder auch Persönlichkeitsstörungen kann die individuelle Wiederbegegnung mit emotionalen Inhalten in einem neuen Feld, wie zum Beispiel dem Plastizieren mit Ton bedeuten, dass die Betroffenen ihre eigenen, als schwierig empfundenen Emotionen neu erkennen und lernen, diese zu verbalisieren.
Die dritte Pilotphase dauert von Oktober bis Dezember. „Wir sind noch in der Testphase und hoffen, das Projekt in Zukunft auszuweiten“, schaut Projektleiterin Hannah Goebel voraus. „Wir wollen, dass das Pilotprojekt etabliert wird.“