Sie ist eine Bürgerin Hemelingens, wohl Mitte vierzig. Sie arbeitet in Hemelingen, jeden Tag. Sie scheint normal zu sein. Normal im Kontakt, normal in der Erscheinung, normal im Lebensstil. Aber was ist schon normal? Ist es nicht bei Jedem von uns so, dass das Äußere vielleicht nicht ganz das abbildet, was sich im Inneren des Menschen abspielt? Bei Rosi Kirchstein* ist es auf jeden Fall so. Wer sie nicht näher kennt, ahnt nichts von ihrer Geschichte – einer Geschichte, die aus dem Rahmen fällt.
Rosis Start ins Leben ist nicht einfach. Ihre Eltern trennen sich, da ist Rosi noch ein ziemlich kleines Mädchen. Sie lebt mit Mutter und Bruder in einem kleinen katholischen Dorf – als gebrandmarktes Scheidungskind. „Aus den Kindern kann ja nichts werden,“ hört sie einen Lehrer sagen. Sie spürt, dass sie nicht dazu gehört zur „normalen“ Gesellschaft. Die Mutter ist arm.
Erst mit dreizehn Jahren und der Clique ändert sich Vieles. Sie erlebt das Zusammensein mit den Anderen als Familienersatz. „Ich war die Jüngste“, sagt sie und erwähnt, dass alle aus der Gruppe aus desolaten Verhältnissen stammen. Sie führt eine Zeitlang ein wildes Leben, fängt an zu kiffen, geht wochenlang nicht zur Schule und landet nach einem Jahr in einer WG, wo sie betreut wird. Dort fühlt sie sich wohl, aber nach einem Jahr gibt es dort auch einen Crash, sie fliegt raus, kommt über Umwege wieder zur Mutter, bleibt dort, aber nicht lange, da sie mit sechzehn mit ihrem Freund zusammen zieht.
Das Chaos beginnt die Regie zu übernehmen. Sie beginnt zwar eine Lehre als Friseurin (wie ihre Mutter, was sie eigentlich gar nicht will), ist aber völlig beschäftigt mit Dingen wie Bulemie (Eß-Brech-Sucht), einer Abtreibung, Handgreiflichkeiten des Freundes, Trennung, neuer Freund, wieder Trennung, leben bei Oma, leben alleine.
Geht es noch weiter abwärts?
Ja, Es geht. Mit neunzehn kommen harte Drogen ins Spiel: Heroin, Kokain. Zunächst geht es ihr damit gut. Sie fühlt sich besser denn je. Hat Selbstvertrauen, hat einen neuen Freund, mit dem es gut läuft, der sie an die Drogen gebracht hat; ihr Selbstwertgefühl ist besser denn je. Die Bulimie verschwindet. Sie glaubt auch mit den Drogen umgehen zu können und sagt sich: „Ich werde nicht süchtig.“ Aber nach drei Monaten dosiertem Konsum braucht sie den Stoff täglich und hat damit sofort das nächste Problem: Sie braucht Geld, wird Drogenkurier, fährt nach Holland, schafft das Teufelszeug über die Grenze – bis sie erwischt wird und ins Gefängnis kommt.
Dort der erste Entzug und folgend fünfzehn Monate stationäre Suchttherapie. Leider natürlich nur mit Menschen, die alle die gleichen Probleme haben. Und natürlich auch wie jeder Mensch mit der Sehnsucht nach Freundschaften und Liebe. Sie lernt dort Mario* kennen, wird nach der Therapie schnell schwanger, Mario ist genauso schnell wieder drauf, versinkt im Chaos, schlägt sie, kommt später ins Gefängnis. Sie haut mit dem inzwischen geborenen Sohn ab, kommt im Heimatdorf unter und schafft es selber nur kurze Zeit clean zu bleiben. Der Kleine ist acht Monate alt, da hat er eine Drogen- und alkoholabhängige Mutter. Trotzdem schafft sie es, sich irgendwie um das Kind zu kümmern. Im Rückblick aber mit viel schlechtem Gewissen. „Ich habe wenig mit ihm gespielt, habe deswegen ganz schöne Schuldgefühle,“ sagt Rosi. Ihr Sohn kann sich daran nicht erinnern, dafür weiß er noch, dass „Mama immer viel geweint habe.“
Bald soll Mario entlassen werden. Rosi hat Angst vor ihm und überhaupt das Gefühl, sie müsse in ihrem Leben grundlegend etwas ändern, um aus der ganzen Scheiße herauszukommen. Sie hat jemanden aus Bremerhaven kennen gelernt und zieht in den hohen Norden. Sie fängt wieder an als Friseuse an zu arbeiten – für drei Monate. Die Sucht ist stärker. Sie nimmt wieder Kokain und trinkt. Beides führt zu Auffälligkeiten im Frisörsalon, ihr wird gekündigt. Mit dem neuen Freund ist es auch schnell aus, der nächste steht aber bald vor der Tür und mit ihm weitere Drogen und Schläge. Nachbarn rufen das Jugendamt, das ihr den Sohn wegnimmt (wegen der Gewalttätigkeiten des Freundes gegen sie), der in eine Pflegefamilie kommt, wo er bis zum Erwachsenwerden leben wird.
Der Sohn fehlt ihr, die letzte Stütze, der letzte Halt, der letzte Sinn.
Jetzt kommt der völlige Absturz, die ganz dunklen Jahre. Jetzt ist Rosi dauerbreit, braucht Geld, geht auf den Straßenstrich, versucht sich das Leben zu nehmen. Landet immer wieder auf der Intensivstation. Kein Lebensmut mehr. Ein einziges Dahinvegetieren im kompletten Drogenrausch. Und in der Gewalt auf dem Strich und in der Szene. „Fressen oder gefressen werden,“ lautet die Überschrift für diese Zeit.
Die zahllosen Kurz-Entgiftungen bleiben ohne Wirkung, da sie jedes Mal wieder in die gleiche Umgebung zurückkehrt – bis sie nach sechs Jahren in der Hölle endlich einen Therapieplatz bekommt.
Loxstedt bei Bremerhaven. Und jetzt endlich ist es ein wirklicher Wendepunkt. Sie hält die achtzehn Monate dort aus, kommt wieder in einen geregelten Tagesablauf hinein und vor allem geht es danach positiv weiter. Rosi zieht nach Bremen, in eine neue unbelastete Umgebung, lebt in einer intensiv betreuten Clean-WG für zwei Jahre, danach in eigener Wohnung. In den ersten drei Jahren nach Loxstedt hat sie tägliche Betreuung! Und geht häufig in die Selbsthilfegruppen, wo sie Menschen trifft, die sie sehr berühren und ihr weiterhelfen. Es entstehen Freundschaften, fast alle zu Menschen, die eine ähnliche Geschichte haben und aber auch einen Abstand zu ihr haben. Diese Freundschaften und die Selbsthilfegruppen, zu denen sie heute noch ein- bis zweimal die Woche geht, sind neben der Arbeit die entscheidenden Stützen in ihrem Leben.
Ja, Rosi Kirchstein arbeitet. Und nicht nur sporadisch und nicht in einer Hilfstätigkeit. Nein, sie hat es jetzt endlich geschafft, ihren Fähigkeiten entsprechend eine Tätigkeit zu finden, die ihr Freude macht und in der sie sogar inzwischen in verantwortlicher Position tätig ist. Was und wo sie dies tut? Das bleibt, wie ihr richtiger Name, ihr Geheimnis.
Zu ihrem Sohn hat sie wieder Kontakt. Er sagt, er habe zwei Mütter. Und das sei jetzt so auch ganz in Ordnung. Immerhin ist er selber inzwischen ein erwachsener Mann.
Und wie sieht Rosi ihr Leben heute?
„Es hat sich grundsätzlich geändert, Gott sei Dank! Ich bin jetzt acht Jahre clean und hoffe, das es so weiter geht. Denn inzwischen kann ich sagen: Ich finde das Leben toll!“