Autor:in: Jürgen Asendorf

Sichtweisen

 

Jede Münze hat zwei Seiten“. „Ein zweischneidiges Schwert“. „Das ist nur die halbe Wahrheit“. Diese Redensarten machen deutlich, das es niemals nur die eine richtige Sichtweise geben kann.

Auch in unserem Rechtsstaat bildet sich zum Beispiel ein Richter erst ein Urteil, nachdem er Verteidigung und Staatsanwalt angehört hat.

Ein Mann hängt kopfüber an einem Baum. Keine Sorge, es geht ihm gut, denn er hat sich freiwillig in diese scheinbar unbequeme Lage begeben. Es herrscht eine entspannte, fast meditative Atmosphäre. Der Mann hat sich die Zeit genommen, um in Ruhe über ein bestimmtes Problem nachzudenken.

Das hätte man auch einfacher haben können, werden Sie jetzt vielleicht denken, aber dem hängenden Mann geht es hier bewusst um das Umkehren der Blickrichtung, er möchte die Welt aus einer ganz neuen Perspektive betrachten. Von unten schauend, weil andersherum hängend, will er ganz neue Erkenntnisse gewinnen.

Die vorstehend geschilderte Szene ist übrigens nicht real, sondern ein Abbild der Karte Nr. 12 (Der Gehängte) des Kartenorakels Tarot. Bei dieser Karte, aus einem insgesamt 78 Karten umfassenden Deck, geht es um das Analysieren und Reflektieren unterschiedlicher Standpunkte.
Denn in Zeiten von persönlichen Krisen und innerem Ungleichgewicht oder Streitigkeiten des Alltags, kann es hilfreich sein, sich die Zeit zu nehmen, den Partner, die Umwelt sowie insbesondere auch sich selbst zu hinterfragen. Wie denkt mein Gegenüber und was hat ihn dazu bewogen so oder so zu handeln? Argumentierte ich aus der Emotion heraus zu unsachlich, gar ungerecht?

Herr und Frau W. sind ein verheiratetes Paar im mittlerem Alter, er ist Abteilungsleiter in einem mittelständischen Betrieb, sie führt den Haushalt, dem noch drei sich in der Pubertät befindenden Kinder angehören. Die letzten Monate herrscht eine stressige Atmosphäre in der Familie, keiner weiß so richtig, wie sich diese ständigen Gereiztheiten ins Familienklima eingeschlichen haben. Schauen wir uns einmal einen beliebigen Tag der beiden Familienoberhäupter an.

Herr W. wird wieder einen anstrengenden Arbeitstag vor sich haben, das weiß er schon morgens beim Aufwachen. Wie auch in den letzten Wochen, hat er wieder einmal schlecht und sehr wenig geschlafen. Er denkt an die Teamsitzung, in welcher er heute ein wichtiges neues Projekt, an dem er schon wochenlang arbeitet, vorstellen soll, und auch daran, dass die ganze Arbeit wieder an ihm hängen geblieben ist, weil sein Kollege die meiste Zeit krank war. Wenn nur nicht immer diese festen Termine wären, das bedeutet jedes Mal Stress für ihn, da seine Regelarbeit liegen bleibt, sich anhäuft und irgendwann ja auch noch bewältigt werden muss. Pausen? Gibt es nicht, das Käsebrot wird nebenbei gegessen, während man sich am Telefon mit nervigen Kunden rumschlägt.
Überstunden? Na klar, die sind längst zur Gewohnheit geworden, da denkt man gar nicht mehr darüber nach. Zu allem Überfluss ist da noch der neue, junge und gut aussehende Mitarbeiter mit den ach so tollen Qualifikationen und Referenzen, bei allen beliebt, raubt er ihm (Herrn W.), mit seinen „Es gibt für alles eine Lösung-Sprüchen“, den letzten Nerv.
Wenn er wenigstens am Abend Ruhe hätte, aber da stören die pubertierenden Kinder ja auch mit lauter Musik und egozentrischem Gehabe.
Als ob sein Nachwuchs am Feierabend vor lauter Langeweile nichts Besseres zu tun hätte, als bei ihm die längst überschrittenen Grenzen immer noch ein Stückchen weiter auszuloten.

Ach, seufzt Herr W., „Wie gerne würde ich mit meiner Frau tauschen“, die macht morgens schnell Frühstück, schickt die Kinder zur Schule und kann sich dann für den Rest des Tages entspannt und Zeitschriften lesend, in den sonnendurchfluteten Garten unseres Einfamilienhauses setzen. Wellness pur.

„So…geschafft!“, denkt Frau W.. Endlich sind die Kinder aus dem Haus, wobei sie jedes der drei Kinder wieder mindestens dreimal wecken musste, wie sie gerade bemerkt. Das sind ca. 10 Weckvorgänge, jedes Mal wieder die Stufen hoch in die zweite Etage.

Eigentlich wäre es so einfach, man müsste die Kinder ruhig mal verschlafen lassen, um sie damit Verantwortung und Selbständigkeit zu lehren, aber sie kann es nicht. Nun gut, jetzt ist zunächst der Abwasch dran, gleich noch mal die Treppe hoch, denn in den Kinderzimmern liegen ja noch Teller, Tassen und Gläser vom alltäglichen Fernsehabend.
Es ist noch keine 10.00 Uhr, da befindet sich Frau W. schon auf dem Weg zum Einkaufen, erstes Ziel ist der Discounter Lidl, danach noch –wegen der heutigen Angebote – zu Aldi. Fast ist die Ladekapazität ihres Fahrrads erreicht, die schaukelnden Tüten am Lenker erschweren das Radeln, aber sie muss ja abschließend noch den Rewe-Markt besuchen, denn nur dort bekommt sie bestimmte Markenprodukte, wie zum Beispiel die qualitativ guten Chips, welche die Kinder so sehr mögen oder das frische Bio-Rinder-Steak für ihren Mann.
Wieder zu Hause, schnell alles ausgepackt. Was jetzt? Die Zeit verrinnt so schnell. Erst Kartoffeln schälen für das Mittagessen oder lieber die ganze Wohnung durchsaugen? „Egal“, denkt Frau W, und wirkt dabei fast apathisch „muss ja eh alles gemacht werden“ und vor ihrem geistigen Auge sieht sie schon den Nachmittag ablaufen. Hausaufgaben mit den beiden Söhnen, Küche und Bad schnell durchputzen, das Referat mit ihrer Tochter zu Ende bringen – klar, wie immer fast auf den letzten Tag – obwohl es sich doch eigentlich um ein Monatsreferat mit einem entsprechend großen Zeitfenster handelte, aber jetzt artet es doch in Stress aus. Wie schreib ich dieses oder jenes, wo ist das große Lineal und der Bleistift mit der dünnen Spitze, Fotos sind noch zu machen, ist der Akku für die Digital-Kamera aufgeladen, funktioniert der Drucker?

Jetzt streiten und „kloppen“ sich auch noch die beiden gleichaltrigen zweieiigen Zwillinge. „Mama, der Arsch ärgert mich schon wieder“ hallt es mit lauter, schriller, sich überschlagender Stimme aus dem Obergeschoss herunter. Wie jeden Tag. „Die sind wieder auf „Playstation-Entzug“ denkt Frau W. genervt. Lässt man sie dann doch an die Spielekonsole, ist der nächste Streit vorprogrammiert, nämlich das Ausschalten der selbigen. „Gleeeeiiiiiiiich. Noch 5 Minuten. Nur noch die Mission beenden. Bist du blöd, nicht jetzt, wo ich soweit gekommen bin.“
„Ach“, denkt Frau W., während einer kleinen Pause, die sie sich jetzt um fast 17.00 Uhr einfach mal gönnt, „wie gerne würde ich mit meinem Mann tauschen, die wesentliche Arbeit an die Untergebenen delegieren und am Kopierer ein paar nette Gespräche über Fußball oder „Gott und die Welt“ führen.

Den eigenen Standpunkt mal kurzfristig wechseln, das bedeutet tolerant zu sein und Kompromisse zu suchen. Doch was sich in der Theorie so einfach anhört, kann in der Praxis so schwer sein. Eine Meinung ist schnell gebildet, denn der Mensch ist gewohnt „in Schubladen zu denken“. Dieser Mechanismus schützt uns vor Reizüber-flutung, aber einmal sortiert und abgelegt, bleibt ein Gedanke, eine Meinung, ein Standpunkt lange Zeit unreflektiert. Zu hastig in die Schublade gepackt, wird die Meinung gar zum Vorurteil. („ Alle Deutschen essen Sauerkraut“, „Frauen können nicht einparken“).

Sich aus einer festgefahrenen Situation wieder zu befreien, zu öffnen, Blockaden zu lösen oder neue Wege zu gehen – dazu braucht es manchmal eine neue, andere Sichtweise.

Seien Sie neugierig und nehmen Sie sich die Zeit, schauen Sie ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln an. Erinnern Sie sich an ihre Kindheit, hingen Sie nicht auch wie jedes kleine Kind gerne kopfüber an einem Klettergerüst? Wie sah die Welt von dort aus?
Eine Sichtweise ist immer abhängig von mehreren Faktoren, z.B. Schulbildung, Erziehung, Standort und Zeit.
Gerade der Faktor Zeit scheint mir interessant. Als Jugendlicher hat manch Einer eine andere Meinung zu einem bestimmten Thema als Jahre später als Erwachsener. Und je nachdem, ob die Zeit als kurzweilig oder langatmig empfunden oder ausgelebt wird, ergeben sich andere Sichtweisen. Dann gibt es noch den Zeitgeist, der ganze Epochen prägen kann.
Selbst als bewiesen wurde, dass die Erde rund und keine Scheibe ist, beharrte die Kirche noch auf dem gegenteiligen Standpunkt.

Nun, was ich Ihnen vermitteln möchte, ist Folgendes: Das Gegenüberstellen und Abwägen von Pro und Contra führt zu einem Fazit, aus dem sich ein Kompromiss oder eine ganz neue Erkenntnis ergeben können. Oder anders gesagt: These und Antithese führt zu Synthese.