Autor:in: Friedrich Schüßler – unter Mitarbeit von Norman Broszinski, Irmgard Gummig und Andreas Roemer

Bremer Institut für Musiktherapie – BIM

Das BIM findet man nur, wenn man danach sucht. Von der vielbefahrenen Hauptstraße biegen wir in eine Einfahrt ein und finden uns in einem Hinterhof wieder. Schilder weisen auf verschiedene gewerbliche Räume hin. An einem der Eingänge werden wir schließlich fündig. „Bremer Institut für Musiktherapie“ steht dort auf einem Schild.
Ich und meine drei Kolleg*innen aus der Zwielicht-Redaktion begeben uns in den ersten Stock, wo Ilse Wolfram, die Leiterin des BIM, uns freundlich empfängt. Sie führt uns durch die Etage in einen Raum voller Instrumente. Dort stehen unter anderem ein Klavier, ein Schlagzeug, ein Kontrabass, verschiedene Saiteninstrumente und Regale voller kleiner Dinge, mit denen man wahrscheinlich auch Klänge erzeugen kann.
Wir nehmen Platz und lernen uns ein bisschen kennen. Frau Wolfram ist eine zierliche ältere Dame, voller Aufmerksamkeit und Offenheit. Ich kriege schnell das Gefühl, dass sich zwischen ihren Ohren mehr befindet als das, was ihren Mund verlässt. Wir beginnen unser Interview mit allgemeinen Fragen zur Musiktherapie.

Was ist Musiktherapie?

„Menschen werden therapiert… ja, das klingt so, als ob da jemand ist, der was macht, und der andere ist passiv dabei –, so, als wenn man eine Tablette verabreichen würde. So soll das nicht sein. Wir sehen uns da schon in einer gemeinsamen Arbeit. Ob es nun Erwachsene sind oder Kinder: Jemand reagiert auf Musik und meine Aufgabe als Musiktherapeutin ist es, dort hinzuhören; versuchen, zu verstehen, was ich höre und es vielleicht auch zu benennen. Manchmal brauchen die Menschen das auch, dass man das benennt.
Ganz allgemein gesprochen ist Musiktherapie die Anwendung von Musik in allen ihren Formen im Gesundheitsbereich, durch ausgebildete Musiktherapeuten. Das kann zum Beispiel freie Improvisation sein; das Anhören von Musikstücken, mit denen jemand etwas besonderes verbindet oder durch die diese Person besonders berührt wird. Es können auch Geräusche sein. Es kann auch die sogenannte Body Music sein.“
Frau Wolfram trommelt mit den Händen auf ihrem Körper.
„Bei Body Music geht es um Berührung, oder man kann auch etwas hochgestochener sagen Vibroakustik – es geht direkt in den Körper hinein und löst dann etwas im Menschen aus.
Das sind alles Formen; auch, ob man zu zweit spielt, ob man zu dritt spielt, ob man in der Gruppe spielt, ob das Musikstück improvisiert wird und dann wieder verklingt. Musik ist flüchtig – im Gegensatz zu einem Bild, das an der Wand hängt.
Wir selber, als handelnde Personen, wir geben dieser Musik die Bedeutung. Das ist nicht etwas, das von außen kommt. Wir geben die Bedeutung in dem Zusammenhang, den wir gemeinsam erstellen.
Wenn ich dann zum Beispiel frage: Welchen Titel hat denn die Musik, die wir gerade gemacht haben? Es ist ja nichts vorgegeben in der freien Improvisation. Und dann sagt vielleicht jemand: Das klingt wie Abenddämmerung zum Beispiel – dann könnte ich als Therapeutin nachfragen, was sie damit meint; was das für sie bedeutet; welche Art von Abenddämmerung sie sich vorstellt und warum es gerade diese sein soll und welche Erinnerungen sich damit verknüpfen. Welche Menschen damit zusammenhängen, ob es schöne Momente oder belastende Momente waren. Es kann alles Mögliche sein. Und ich als Therapeutin weiß das ja nicht, aber ich erstelle diese Bedeutung zusammen mit meinem Gegenüber, und das führt zum Verständnis. Derjenige fühlt sich dann besser verstanden, und das nennt man dann Musiktherapie.“
Sie lacht, und es wirkt ansteckend. Wir lachen gemeinsam. Nach einer kurzen Redepause fragt Frau Wolfram uns, ob wir uns nicht mal „ansprechen lassen“ wollen von den Musikinstrumenten. Vorher möchte ich aber noch wissen, mit welchen Problemen sich die Menschen an das Institut wenden, wenn sie auf der Suche nach Hilfe sind.

WER sind die Klient*innen?

„Hier im Haus finden vor allem Kindertherapien statt. Deswegen auch das Schlagzeug und diese ganzen Sachen. Es sind drei Kolleg*innen, die das machen, und die machen auch Aufnahmen von den Kindern und Jugendlichen, die sie diesen dann vorspielen. Daraus kann Bewegung entstehen; jemand bewegt sich dazu oder malt was dazu.
Nehmen wir mal als Beispiel Kinder die viel zu früh auf die Welt kommen: Die sind oft nur 500 Gramm schwer, liegen im Inkubator und hören dann die ganze Zeit nur dieses Geräusch von irgendwelchen Maschinen. Das Gehörorgan ist der erste Sinn, der sich entwickelt – das fängt schon im Mutterleib an. Und da hat die Musiktherapie auch einen Zugang entwickelt, indem die Stimme der Mutter aufgenommen wird und dies dann dem Kind auf ganz behutsame Weise immer wieder vorgespielt wird – wie eine Fortsetzung der Schwangerschaft, um diese Mutter-Kind-Beziehung zu stärken.
Und nicht zu vergessen: Kinder, die an Krebs erkrankt sind und die auch im Klinikum Mitte in der Kinderstation sind – oder demnächst im Eltern-Kind-Zentrum. Dort kommt die Musiktherapeutin auch ans Bett und bringt einen schwarzen Raben mit, der dann irgendwas erzählt oder darstellt; und es gibt viele kleine Instrumente, die das Kind in die Hand nehmen und dann damit was machen kann.
Dazu gibt es die Erwachsenenbereiche mit den verschiedenen Krankheiten und Einrichtungen und nicht zuletzt die Palliativstationen. Dort soll die Behandlung auf dem Weg zum Sterben lindern. Es soll ein möglichst gutes Sterben sein. Vielleicht möchte sich jemand nochmal eine Last von der Seele reden oder musikalisch irgendwie begleitet werden. Im Klinikum Links der Weser gibt es zum Beispiel eine Kollegin, die mit der Gitarre kommt und ein bestimmtes Lieblingslied der Patientin/ des Patienten spielt.
Vielleicht noch etwas zu behinderten Menschen: Wir hier alle können mit unseren Händen die Instrumente bespielen – aber es gibt ja auch behinderte Menschen, die im Rollstuhl sitzen und die nicht so drauf losgehen können; und da gibt es dann spezielle Instrumente, die man spielen kann. Oder wenn jemand vom Schlaganfall gelähmt ist, aber vielleicht einen Arm heben und ein Instrument, dass an der Wand hängt, gut anschlagen kann.“

Instrumente ausprobieren

Frau Wolfram fragt uns, ob wir nicht mal die Instrumente ausprobieren wollen. Zwei von uns wollen, der Rest zögert. Erste Töne erklingen… wir gehen durch den Raum und probieren aus. Gitarre, Bass, Schlagzeug, Klavier, Stimme. Ein Durcheinander miteinander.
„Wir sagen immer, es geht erstmal ums Schnuppern; man geht durch den Raum, schaut sich die Instrumente an. Dieses eine spricht mich überhaupt nicht an, dieses spricht mich an, ich kann es anfassen, ich kann es riechen; ich kann hören, wie es klingt, wenn ich da meine Hände drauflege.
Es gibt ja unzählige Wege, sich einen solchen Raum wie hier zu erobern; und da gibt es einen Unterschied zwischen Klimpern, einfach rumprobieren und Jetzt machen wir mal eine Improvisation. Bei einer Improvisation kann es Spielregeln geben – wie zum Beispiel, dass jeder sich auch zurückziehen kann und auch mal rausgeht, wenn es zu viel wird. Oder wenn es mal zu laut wird, kann man das ruhig sagen. Jeder soll auf sich achten.
Congas, Cajon (eine Kiste aus Holz auf der man trommeln kann), Pauke, Djembe (eine afrikanische Trommel), Schlagzeug, Becken, Akkordeon, Steeldrums, Flöte, Klavier… Wir brauchen von jeder Gattung Instrumente; wir brauchen Saiteninstrumente, Rhythmusinstrumente, Geräuschinstrumente, lang klingende Instrumente, kurz klingende Instrumente…“
Wir probieren alles aus. Ein tiefer Kontrabass wechselt sich mit hellen Glöckchen, Klavier, Schlagzeug ab, und Bongos gesellen sich dazu – und schließlich singt sogar eine*r von uns dazu.
Ist das jetzt schon Musiktherapie? In welcher Phase befinden wir uns?
Frau Wolfram lacht: “Ich würde sagen, das ist die Neugier- und Ausprobierphase“
Alle reden durcheinander. Themen tauchen auf: Wir spielen das erste Mal zusammen. Neue Erfahrung. Wer kennt sich mit Musik besser aus? Wer ist besser? Was ist Musik? Bewertung vermeiden.
„Für die Musiktherapie braucht es keine musikalischen Voraussetzungen. Die ganze Welt der Klänge, die ganze Welt der Geräusche steht zur Verfügung“
Bass, Klavier, Rasseln und Rauschen wechseln sich ab und werden zu einer interessanten Mischung. Es ist schön, so zusammen Musik zu machen. Für einige ist es eine komplett neue Situation, die erstmal Angst macht. Andere sind schon erfahren und können so gelassener an die Sache herangehen. Nach einiger Zeit wird es ruhiger, und wir sind wieder bereit, Fragen zu stellen.

Ich würde auch gern Musiktherapie bei Ihnen machen. Was muss ich dafür tun, was sind die ersten Schritte?

„Dann würde ich vorschlagen, dass wir einen Kennenlerntermin in meiner Praxis ausmachen, und dabei kommen wir dann auf alle Fragen zu sprechen. Ihre Motivation, warum Sie das angehen möchten; dann reden wir auch über Bezahlung, über die Häufigkeit von Therapiestunden; wir würden dann vielleicht ein paar Probestunden vereinbaren, um festzustellen, ob wir miteinander können, und dann würden wir einen Therapiekontrakt machen. Und natürlich würden wir uns über das Wichtigste, das sind die Ziele der Therapie, unterhalten: Was möchten Sie mit einer Musiktherapie erreichen? Möchten Sie einen anderen Zugang zur Musik finden? Es kann ja sein, dass Sie mal einen hatten, den sie wiederfinden wollen. Oder möchten Sie einer bestimmten Beziehungsproblematik mit sich selbst oder mit anderen näher auf die Schliche kommen? Oder finden Sie bei sich irgendwelche Störungen, um die es gehen soll? Das würden wir dann alles in einem ersten oder zweiten Gespräch verhandeln und feststellen, ob wir miteinander können – denn die therapeutische Beziehung ist ganz, ganz wichtig. Es muss ein Vertrauen da sein, mein Gegenüber muss das Gefühl haben: Ja, da kann ich vertrauen, da komm ich gerne her, da geh ich gerne hin, und da kriege ich auch Erkenntnisse – denn wir wollen natürlich auch Emotionen besser kennen lernen, von denen wir getrieben werden.
Das Erstgespräch ist immer kostenlos und unverbindlich. Ich muss auch als Musiktherapeutin schauen, ob da eine Verbindung entstehen kann. Das ist auch für beide Seiten wichtig. Wir nennen das übrigens, um noch ein Fachwort anzubringen, intersubjektiv: Zwischen zwei Subjekten, zwischen zwei Menschen.
Probatorische Sitzungen können wir nicht anbieten. Wir sind kein Gesundheitsberuf der im Krankenkassensystem ist.“
(Anm.: Während die Gruppentherapie durch Spenden ermöglicht wird und somit kostenfrei für Klient*innen ist, gibt es für die Einzeltherapie verschiedene Möglichkeiten der Finanzierung.)

Ausbildung zum/zur Musiktherapeut*in

Wir setzen uns wieder auf unsere Stühle. „Wie sind Sie dazu gekommen, Musiktherapie anzubieten?“
„Ich wollte unbedingt einen sozialen Beruf erlernen. Deswegen bin ich auch erstmal Sozialarbeiterin geworden und hab das viele Jahre auch ausgeübt aber ich habe auch immer nebenbei Musik gemacht. Überall wo ich war, habe ich Klavier gespielt oder anderes gemacht. Und hab dann aber festgestellt: Die Tätigkeit als Sozialarbeiterin macht mich nicht zufrieden. Ich bin immer die Feuerwehr und werde immer die Feuerwehr sein, wenn Eltern versagen; mich um die Kinder zu kümmern und so weiter und so fort, und das wollte ich dann nicht mehr. Und ich hatte auch selber den Eindruck, dass ich noch eine Aus- oder Fortbildung brauche, um wirklich besser zu sein; um Fragen im Kontakt besser beantworten zu können; und dann bin ich auf die Musiktherapie gekommen, wo ich Soziales und die Musik verbinden kann. Das ist meine Art, meinen Beruf auszuüben. Dann habe ich mich umgesehen: Wo kann ich Musiktherapeutin werden, und habe ich alle Voraussetzungen? Ich hatte eine Fachhochschulreife, ich hatte musikalische Voraussetzungen, ich war auch belastbar genug; ich konnte unterscheiden zwischen dem, was ich bei mir wahrnehme und dem was ich bei anderen wahrnehme; das ist wichtig: Entscheiden zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung.
Die Ausbildung war sehr intensiv. Das waren drei Jahre mit speziellen Seminaren für Kinder und Gehörlose, unter Anderem. Am Ende standen theoretische Prüfung und Abschlussarbeit.
Und letztendlich müssen wir eine Genehmigung, eine Erlaubnis vom Gesundheitsamt haben, um unseren Beruf auszuüben. Also, was die psychologischen Psychotherapeuten als Approbationen haben, da brauchen wir als Musiktherapeuten mindestens die eingeschränkte Heilpraktikerprüfung für Psychotherapie. Das ist eine Prüfung, die wir zusätzlich beim Gesundheitsamt machen müssen, und seitdem habe ich die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde auf dem Gebiet der Psychotherapie. Und das ist meine rechtliche Legitimation.
Es gab damals (in den 1980er Jahren) noch nicht allzu viele Möglichkeiten, inzwischen gibt es ja auch nach dem Abitur staatliche Studiengänge oder berufsbegleitende, die, wie das heutzutage so ist, mit dem Bachelor oder dem Master enden. Damals gab es noch Diplomstudiengänge. Heutzutage gibt es eben die Ausbildungen, die gut sind; und auch die Studiengänge. Bis zu den hohen akademischen Ehren: Wir haben promovierte Musiktherapeuten, wir haben eine Reihe von Fachzeitschriften – also, der Beruf hat sich schon entwickelt.“

Zum Schluss

Was war Ihre Motivation dafür, dass Sie sich ans Zwielicht gewandt haben und diese Verabredung mit uns getroffen haben? Was ist Ihr Ziel?
„Also, ich glaube, am meisten hat mich motiviert, dass ich die Not gesehen habe. Die Not von Menschen, die psychisch erhebliche Schwierigkeiten haben. Diese Anfragen, die oft bei mir gelandet sind und die ich irgendwie aufgefangen habe. Aber ich finde, ein Gruppenangebot ist noch wichtiger.
Ich hatte mal eine Patientin, die kam aus der Klinik Bremen Ost; und die hat sehr viele, ganz schwierige Diagnosen; und die fühlte sich viele Jahre sehr gestützt durch die Musiktherapie. Sie hat öfter gesagt: Jetzt bin ich schon drei Jahre nicht in der Psychiatrie gewesen – das habe ich der Musiktherapie zu verdanken.
Und dann sind die hirnorganischen Vorgänge wieder eingetreten, weil sie auch keine Medikamente nehmen wollte – kann man auch verstehen; und sie hat den Realitätsbezug vollkommen verloren und ist in der Klinik gelandet, und ich habe sie auch dort besucht, und danach haben wir nochmal anderthalb oder zwei Jahre Musiktherapie gemacht. Ich bin mit ihr durch Höhen und Tiefen gegangen, und das hat mich sehr bewegt.“
Wir kommen langsam zum Ende. Wir machen noch ein paar Fotos und verabschieden uns. Wir sind alle ziemlich erschöpft. Es waren intensive anderthalb Stunden, in denen wir viel erfahren konnten.