Der einzige Weg daraus, ist dadurch

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Um den Ursachen und Zusammenhängen ihrer Essstörung auf die Spur zu kommen, ist es für die Autorin ein langer, tiefgründiger und kämpferischer Weg der Selbsterkenntnis.

Mich beschäftigten Fragen und Zweifel wie: Wie kann es mir gutgehen, wenn es anderen nicht gutgeht?
Wie kann ich glücklich sein, wenn ich an dem Unglück anderer einen (strukturellen) Anteil habe?
Wie kann ich meine Privilegien für mich nutzen, wenn ich dafür nichts getan habe und andere über diese Privilegien nicht verfügen?
Wie kann ich das Leben genießen, wenn ich dabei der Umwelt und den Tieren Schaden zufüge?
Ich fühlte mich machtlos, hilflos und als Ballast. Ich wollte möglichst klein, möglichst wenig Last für die Welt, möglichst unsichtbar sein,
um mich und andere vor Schmerz zu schützen.
Meine innere Zerbrechlichkeit sollte nach außen sichtbar sein (soweit kann ich es im Nachhinein rekonstruieren).
Ich wollte nicht Teil der Überflussgesellschaft sein, ich empfand Ekel vor dem unbekümmerten Konsum von Lebensmitteln, der unkontrollierten, „primitiven“ sexuellen Lust und wollte beweisen, dass ich mich kontrollieren und zurückhalten kann.
Noch bis heute prägen mich die Gedanken und Gefühle, doch ich gehe anders mit ihnen um, integriere sie in einer produktiveren und weniger selbstzerstörenden Art in meinen Alltag.
Im Laufe der Zeit sah ich mehr und mehr, wie sehr ich den wichtigsten Menschen in meinem Leben mit meinen Handlungen wehtat.
Sah Menschen weinen, die ich nie zuvor hatte weinen sehen, hatte viele Gespräche, realisierte, wie verkümmert mein Körper war.
Ein paar Monate nach dem Start meiner Genesung lachte ich und ich erinnere mich, wie meine Mutter mir sagte, dies sei nach einem Jahr, das erste mal wieder, dass sie mich lachen sähe. Langsam begriff ich, wie krank ich bin.
Ich war wütend auf mich, agierte zwar mit Hass, Abwertung und Perfektionismus auf mich und meine Fähigkeiten, aber in dieser kurzen Episode war es hilfreich.
Und ich wollte nicht den Menschen wehtun, die immer für mich da waren.
Ich wollte nicht so undankbar sein. Damals verstand ich, was auf dem Spiel steht: Mein Leben.
Es lag an mir, ob ich überleben würde oder nicht.
Hier habe ich zum ersten Mal diese Stärke gespürt oder eher genutzt, die mir noch in vielen weiteren Schritten helfen würde, ich aber erst jetzt langsam zu wertschätzen gelernt habe. Ich wollte das nicht. Ich wollte leben. Ich wusste, ich muss etwas ändern.
Es wird niemand anders tun und wer bin ich, dass ich mich von so einer Krankheit, die durch die Gesellschaft in mir entstanden ist, unterkriegen lasse?!
Ich, aber auch nur ich, habe die Chance, wieder ich selbst zu sein, herauszufinden, wer ich bin.
Ich stehe gegen die Essstörung, wir sind nicht miteinander verbunden. Die Essstörung braucht mich, ich aber nicht sie.
Diese Erkenntnisse sorgten für das Bedürfnis, eine Therapie zu machen.
Ich persönlich bin sehr dankbar dafür, die Therapie erst angefangen haben zu können, als ich dafür bereit war und ein tiefes Bedürfnis verspürt habe danach, herauszufinden, wie es zu der Essstörung kommen konnte.
In den meisten Dokus und Berichten im Internet berichten Betroffene von schweren Familien- oder Beziehungsdynamiken, einschneidenden traumatischen Erlebnissen oder toxischen Umfeldern, in denen Gewicht immer eine übergeordnete Rolle spielte. Ich fand mich dort nicht wieder, verstand einfach nicht, warum mir das passieren konnte.
Es war doch „immer alles gut“. Aber ich wusste, dass es mir nur besser gehen würde, wenn ich mehr herausfand und mich mir stellte.
Meine größte Schwierigkeit war es am Anfang, mich meiner Kindheit und Erziehung zu stellen. Für mich fühlte sich der kritische Blick auf Erziehung und Kindheit undankbar meinen Eltern gegenüber an. Besonders nach der schwierigen Zeit waren wir mehr denn je verbunden, und ich hatte das Gefühl, ihnen alles zu verdanken. Im Laufe der Zeit wurde mir mehr und mehr bewusst, dass es nicht darum geht, eine:n Schuldige:n zu finden, sondern einzig und allein darum, zu verstehen, welche Verhaltensweisen und Gedankenmuster ich angenommen hatte, welche Emotionen in bestimmten Momenten ausgelöst werden und wurden und negative Glaubenssätze zu durchbrechen.
Wenn ich eines in den Therapiesitzungen gelernt habe, dann, dass wir Menschen jeden Tag in unterschiedlichster Form, bewusst oder unbewusst, geprägt und geformt werden.
Wir beeinflussen uns konstant gegenseitig.
Niemand hat Schuld daran, dass ich eine Essstörung hatte (habe).
Niemand übernimmt dafür Verantwortung, es ist lediglich meine Verantwortung, dafür zu sorgen, meine Situation zu ändern und dafür zu sorgen, dass sowas nicht noch einmal passiert. Wir können das Leben nicht ändern, wohl aber unsere Einstellung zum Leben.
Eltern sind auch nur Menschen, die von ihren Erfahrungen, Ängsten und Sorgen geprägt sind.
Ich kann von Glück sagen, dass meine immer ihr Bestes gegeben haben. Das ist ein großes Privileg. Mehr kann ich nicht verlangen. Ich bin unglaublich dankbar dafür.
Und keine Form der kritischen Auseinandersetzung und Erkenntnisse werden daran etwas ändern.
Mir fiel der Übergang vom Kind sein zum Jugendlichen schwer. Ab einem bestimmten Alter schien es normal zu sein, zu daten, immer über Schwärmereien (natürlich nur des anderen binären Geschlechts ^^) zu reden, Freund:innen wurden zu potenziellen Partner:innen. Ich begann Geschlechterstereotypen zu spüren, auch wenn ich diese zu dieser Zeit nicht benennen konnte. „Mädchen“ und „Jungen“ schienen getrennt zu sein, außer, Menschen gingen eine romantische Beziehung ein.
Durch die Pubertät veränderte sich mein Körper. Das bringt immer Unsicherheiten mit sich. Spätestens jetzt scheint klar, welches „Geschlecht“ du hast und wie du dich zu verhalten hast. Geschlechternormative Bilder treten noch einmal besonders hervor. Wenn ich abends auf die Straße ging, begann ich, vorsichtig zu sein, weil ich eine Frau bin. Ein weiterer Aspekt ist der der Sexualität und der Sexualisierung. Für lange Zeit konnte ich, meist unbewusst, diese beiden Begriffe nicht voneinander trennen.
Sexualität fand für mich lange nicht statt. Ich sprach nicht darüber. Ich schwärmte für Menschen, aber ich spürte nie das Bedürfnis nach Nähe und Intimität. Die Sexualisierung und Objektifizierung von Frauen in den Medien, Filmen und der Öffentlichkeit erscheint normal. Ängste, Vorsicht und die potenzielle Gefahr sexualisierter Gewalt werden Mädchen schon früh vermittelt. Die Objektifizierung enthumanisiert die Frauen und Mädchen und rechtfertigt somit Gewalt ihnen gegenüber. Gleichzeitig werden in der Werbung und Mode ideale Schönheiten dargestellt, die faktisch nicht erreicht werden können.
Der Großteil der Fotos, die wir sehen, wird in hohem Maße bearbeitet. Und wenn Frauen dem Ideal entsprechen wollen, ist der Preis hoch. Nicht wenige Models sterben, weil sie verhungern. Die abgemagerten Models erscheinen infantil, ohne Haare am Körper, keine Oberweite. Nur wenige finden diese Körper schön. Nichtsdestotrotz werden sie genutzt, um sexualisierte, objektifizierte Blicke auf den Frauenkörper zu (re)produzieren. BIPOC Frauen sind zudem von Exotisierung und Intersektionalität betroffen.
Frauen sollen sexy sein, gleichzeitig sind sie dann „selber schuld“, wenn sie auf der Straße Catcalling, sexualisierter Belästigung und Übergriffen ausgesetzt sind. Ähnlich wie die frühzeitige Sensibilisierung für die „Gefahren als Frau“ in der Öffentlichkeit, werden hier Verantwortlichkeiten verzerrt. Frauen sollen dünn sein, einen flachen Bauch haben, lange dünne Beine, aber dann haben sie nicht genug Arsch und Oberweite. Wenn der Arsch „sexy“ genug ist und die Brust groß genug, ist der Bauch zu breit. Entweder zu dick oder zu dünn, zu starke Betonung des „weiblichen“ Körpers oder zu wenig. Es gilt, die toxischen Stimmen zu ignorieren, eine Gegenstimme aufzubauen und diese immer weiter zu stärken. Durch die Wut und mein Wissen wurde mir bewusst: Ich möchte nicht, dass es so weitergeht.
Ich habe keine Lust mehr, immer zu überlegen, was ich wann wie esse, ob es zu viel oder zu wenig ist, ob ich zu dick oder dünn bin. Ich möchte meinen Körper nicht weiter schänden, nicht später bereuen, was ich heute so bewusst und offensichtlich tue. Ich habe darauf keine Lust mehr. Eine der respektlosesten Aussagen von Menschen ist: „Dann iss doch einfach was.“ Das geht gar nicht. Menschen, die sowas sagen, haben es einfach nicht verstanden. Gar nicht. Aber ich als Person, die selber Magersucht hatte (oder vielleicht auch noch hat?), erlaube mir zu sagen, dass genau das in abstrakter und absurdester und brutalster Art der wirksame Weg ist. Wenn du nicht mehr möchtest, dass Essen dein Leben bestimmt, wenn du dich nicht über deinen Körper definieren möchtest, einfach essen möchtest, wann du willst: dann tue es. Am Anfang wird es hart sein. Die Stimmen werden noch lauter werden, aber das gerade, weil sie merken, dass du bewusst und kämpferisch gegen sie angehst. Es gilt durchzuhalten. Auch sich etwas vormachen, aber im positiven Sinne (fake it until you make it).
Sich ablenken, weinen, wütend sein. Es ist alles erlaubt.
Aber wichtig ist der Versuch, all die Gefühle gegen die Krankheit zu verwenden und sie nicht von ihr gegen dich verwenden zu lassen. Wenn du da durchgekommen bist, wirst du merken, was für eine Macht und KONTROLLE DU HAST. Denn das ist doch das Wahnsinnige. Egal, wie schwer es ist, du allein reichst aus, um es zu ändern. Bei welchem Aspekt im Leben sonst hast nur du so viel Macht zu handeln, zu gestalten und etwas zu verändern?! Das ist so selten! Nutze es. Sehe es als einen aufgestellten Mittelfinger gegen all die Menschen und Strukturen, die dich in diese Lage gebracht haben. Wenn du wieder gesund bist, können sie dir nichts mehr (naja, weniger, viel weniger, aber ‚nichts‘ klingt motivierender ; ) ).

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