Autor:in: Mariana Volz

Der erste Mensch mit Suizidgedanken? – Ein Erfahrungsbericht aus der Krise

Es ist Samstagnachmittag. Ich sitze in der Selbsthilfe-Musikgruppe. Eigentlich ein Ort, an dem ich mich sicher und geborgen fühle. Freunde sitzen um mich herum. Aber mich quälen Selbstmordgedanken. Die Welt scheint düster. Es scheint so, als sei es schon immer so gewesen und als würde es niemals anders werden.
Eigentlich ist mir bewusst, dass dieser Eindruck nicht wahr ist. Ich weiß, dass dieses schrecklich quälende Gefühl irgendwann auch wieder aufhören wird. Ich weiß, dass ich nur den Moment überstehen muss. Aber es ist mir egal! Ich will nicht mehr durchhalten. Ich will nicht mehr kämpfen. Ich will mich fallen lassen. Soll das Schicksal doch entscheiden. Aber es entscheidet nicht. Nichts passiert. Ich bin immer noch da. Und es tut immer noch unerträglich weh.
Ich begreife, dass ich selbst handeln muss. In die eine oder die andere Richtung. Tief in mir ist der Wunsch nach Hilfe. Ich will nicht sterben! Aber ich traue mir selbst nicht über den Weg. Ich glaube, wenn ich jetzt alleine nach Hause gehe, dann werde ich meinem Leben ein Ende setzen. Ich weiß nicht, wie ich mir Hilfe holen soll. Mich meinen Freunden anvertrauen erscheint mir falsch. Ich will ihnen diese Last nicht aufbürden. Aber alleine schaffe ich es diesmal nicht.
Ich will mich meinen Freunden anvertrauen, doch mein Körper entscheidet anders. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Kein Ton kommt aus meinem Mund. Nur Tränen fließen über meine Wangen. Meine Freunde merken, dass etwas mit mir nicht stimmt. Sie sprechen mich an, rütteln an mir, aber ich kann mich nicht bewegen. Kann keinen Ton sagen. Ich schäme mich. Ich komme mir doof vor. Ich will sagen, dass eigentlich alles gut ist, dass ich mich nur gerade nicht bewegen kann, weil ich in einen Kampf verwickelt bin. In einen Kampf um Leben und Tod, der innerlich stattfindet. Mit einem Feind, den niemand sehen kann. Der irgendwie ich selbst bin. Und dass er stark ist. Dass er fast gewonnen hat. Dass ich jetzt ihre Hilfe brauche.
Die Sorge um meine Freunde, darum, dass sie durch mich leiden könnten, lässt mich die erste Runde in dem Kampf gewinnen. Ich kann mich langsam wieder bewegen und sprechen. Jetzt habe ich keine Wahl mehr, ich muss erzählen, was mit mir los ist.
Letzten Endes entscheiden meine Freunde für mich, dass wir in eine Notaufnahme gehen. Ich bin irgendwie froh, dass sie mir die Entscheidung abnehmen, obwohl ich weiß, dass es nicht richtig ist, anderen diese Entscheidung aufzubürden. In der Klinik erhoffe ich mir Hilfe. Hilfe, die Nacht zu überstehen. Wenn ich ehrlich bin, wünsche ich mir, dass jemand mich rettet, denn ich kann nicht mehr. Schon oft haben mich vor allem nachts Suizidgedanken gequält, aber bisher hab ich es immer allein geschafft. Diesmal ist meine Kraft am Ende.
In der Notaufnahme angekommen, wird mir gesagt, dass ich dort falsch bin. Ich sei nicht im richtigen Stadtteil. Ich frage, wo ich denn richtig wäre, auch wenn ich innerlich denke, dass ich es so oder so keinen Meter weiterschaffe. Ich bekomme von der Krankenschwester keine Antwort. Sie geht weg, irgendwo nachfragen. Ich fühle mich scheiße.
Das Gespräch mit dem Notarzt verläuft mittelprächtig. Er kann zwar deutsch sprechen, aber viele Details versteht er aufgrund seiner Herkunft nicht richtig und ich habe nicht die Kraft, alles immer wieder zu korrigieren. Er bedrängt mich mit seinen Fragen. Er will wissen, ob ich einen konkreten Selbstmordplan habe. Ich hab das Gefühl, dass er mich nicht hier haben will. Ich habe Angst, dass er mich wieder nach Hause schickt, wenn ich seine Fragen nicht zufriedenstellend beantworte. Aber zuhause wartet doch der Tod auf mich! Also reiße ich mich zusammen und versuche die Fragen so zu beantworten, wie er es gerne hören möchte.
Letzten Endes darf ich bleiben. Wir verabreden, morgen noch mal zu sprechen, um zu schauen wie es weiter geht. Ich komme auf eine „Offene Station“. Weil es Wochenende ist, ist kaum einer hier. Der Notarzt übergibt mich dem diensthabenden Pfleger auf der Station. Dieser ist sehr nett, wirkt aber auch so, als wisse er nicht richtig mit mir umzugehen. Ich frage mich, ob ich der einzige Mensch bin, der jemals in einer Krise hier hergekommen ist. Ständig werde ich gefragt, was ich brauche, was die jetzt für mich tun können. Mich überfordert das komplett. Ich bin am Ende. Ich bin nicht mehr fähig, es selbst handzuhaben und brauche Hilfe.
Der Pfleger zeigt mir mein Zimmer. Es ist ein Zweibettzimmer. Die Zimmernachbarin ist zum Glück nicht da. Ich glaube, dass hätte ich in meinem Zustand auch gar nicht ausgehalten. Ich will schlafen. Ich bin so k.o. von allem. Ich habe fürchterliche Angst vor der Nacht, denn in den Tagen zuvor haben mich immer wieder Panikattacken aus dem Schlaf gerissen. Ich merke, dass ich doch nicht schlafen kann, denn sobald ich alleine bin, fangen die bösen Gedanken wieder an, und ich habe das Gefühl, durchzudrehen.
Also gehe ich zum Pfleger, um mir meine Bedarfsmedikation abzuholen, die ich zuvor mit dem Arzt abgesprochen hatte. Der Pfleger gibt sie mir und ich frage ihn, ob er auch zum Reden da sei, denn ich weiß, dass Reden oft hilft. Wenn ich die schlimmen Gedanken ausspreche, ist es oft eine Entlastung. Der Pfleger ist sehr nett, reagiert aber auf meine Frage so, als wäre das ein ungewöhnlicher Wunsch. Was mich aber zutiefst verunsichert, ist nicht seine Reaktion, sondern dass es noch nicht mal ein Zimmer für ein Gespräch gibt. Wir setzen uns ins Speisezimmer, das nachts eigentlich abgeschlossen ist. Ich rede mir eine halbe Stunde lang alles von der Seele. Danach geht es mir tatsächlich besser und ich kann schlafen.

Am nächsten Tag wache ich auf, und die Gedanken sind immer noch da. Nach dem Frühstück spreche ich den Pfleger der Tagesschicht an, wie es denn jetzt weiter geht. Er sagt, das wisse er auch nicht. Ich solle bis Montag warten, an den Wochenenden wäre keiner hier.
Ich bin irritiert. Der Notarzt hatte mir versprochen, dass wir heute nochmal sprechen und sehen, wie es weitergeht. Und wenn ich schon nicht sterbe, dann will ich doch eigentlich auch Montag wieder zur Arbeit gehen.
Meine Arbeit bedeutet mir extrem viel. Sie gibt mir Halt und Struktur. Ohne Arbeit verfalle ich schnell in Depressionen. Und dann klopfen die Suizidgedanken jeden Abend an meine Tür. Das kann ich nicht zulassen. Paradox, dass jemand, der gerade eigentlich sterben will, so große Angst vor dem Sterben hat.
Letzten Endes ist es so, dass ich noch bis Montag in der Klinik bleibe. Therapieangebote oder sonstiges gibt es an dem Sonntag nicht mehr. Ich fahre nach Hause, um mir ein paar Klamotten zu holen. Ich spreche mit guten Freunden und hole mir Unterstützung bei ihnen. Die Klinik kann mir nur einen Schlafplatz und Tabletten anbieten.
Ich versuche, in der Klinik gegen Abend nochmal eine Pflegerin anzusprechen, um zu reden. Das Gespräch findet mitten auf dem Flur statt. Menschen gehen vorbei und sehen mich weinen. Ich stehe an einem Tresen. Kein Sitzplatz, kein Raum, in den man sich mit dem Pflegepersonal zurückziehen kann. Und immer das Gefühl, etwas ganz Abnormes einzufordern. Ich fühle mich extrem unwohl, aber ich bin so verzweifelt, dass ich nach jedem Strohhalm greife, der meine Qualen lindert.
Meine Zimmernachbarin ist am Sonntagabend wieder da. Ich hab das Gefühl, dass sie mich nicht leiden kann. Ich versuche zwar mich mit ihr zu unterhalten, was mir extrem schwer fällt, da ich sowieso unter sozialen Ängsten leide, aber die Gespräche enden schon nach wenigen Worten. Tendenziell scheint sie auch ein zu eher aggressivem Verhalten neigender Mensch zu sein. Mir ist das alles zu viel. Ständig kreisen meine Gedanken. „Wenn das die größtmögliche Hilfe ist, die ich in so einer Notsituation bekommen kann, dann ist es das nächste Mal sicher keine Option.“. So fange ich an, mich immer mehr in die Suizidgedanken zu begeben. Und aus den einfachen Gedanken wird immer mehr der Impuls, handeln zu müssen. Die Frage nach dem wie wird immer konkreter.
Um weiteren Planungen zu entkommen, hilft dann nur noch eine Schlaftablette und schlafen. Am nächsten Tag ist endlich Montag. Am Frühstückstisch sind auf einmal ganz viele Leute. Ganz viele Leute, von denen keiner mit mir spricht. Ich fühle mich einsam. Wie es weiter geht, weiß ich immer noch nicht, also lege ich mich ins Bett und schlafe. Schlafen ist besser als Denken, denn denken bedeutet jetzt Pläne schmieden, wie ich endlich dieses beschissene Leben beenden kann.
Irgendwann weckt mich die Ärztin der Station und holt mich zu einem Gespräch, in dem wir besprechen, wie es weiter geht. Ich bin froh, dass ich es soweit geschafft habe. Ich denke, jetzt bekomme ich endlich Hilfe.
Aber die Hilfe, die sie mir anbieten kann, lässt mich verzweifeln. Ich kann dableiben. Acht Wochen Therapie machen. Oder eine Krisenintervention bis zum Wochenende. Was bedeutet, ich kann jeden Tag an einer Therapiesitzung teilnehmen, für 50 Minuten. Und bis Mittwoch in der Chefarztvisite soll ich mir mal bessere Sachen überlegen, die mir helfen. Denn die Antworten auf die Frage, wie es jetzt mit mir weiter gehen soll, passen ihr nicht. Kein Wunder, denn ich hab keine.
50 Minuten pro Tag… was mache ich die restlichen 1390 Minuten?!? Ich merke, dass mir die Klink nicht guttut. Dass die Klinik mich nicht retten kann. Dass ich alles selber schaffen oder es endgültig beenden muss.
Ich beschließe mich selbst zu retten und die Klinik zu verlassen. Ich gehe zum Pfleger und sage, dass ich gehen will. Er ruft den Arzt, der im Übrigen auch nicht besonders gut Deutsch spricht, und keine fünf Minuten später bin ich auf dem Heimweg.
Es fühlt sich befreiend an, das Klinikgelände zu verlassen. Ich glaube, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hab. Aber ich hab auch Angst. Angst, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Angst, es das nächste Mal nicht zu schaffen. Und das nächste Mal zu wissen, dass die Klinik mir nicht helfen kann.
Ich gehe nach Hause. Rufe Freunde an, treffe mich mit ihnen und gehe am nächsten Tag wieder zur Arbeit. Mein Arbeitsplatz ist besonders. Ich muss mich nicht verstellen. Ich muss nicht permanent funktionieren. Ich arbeite beim Zwielicht. 30 Stunden die Woche. Die Arbeit ist oft sehr anspruchsvoll. Vielleicht nicht immer ganz so professionell wie auf dem ersten Arbeitsmarkt, auch nicht so hektisch und leider wirtschaftlich auch nicht rentabel. Aber sozial – und für mich eine wichtige Stütze.
Ich glaube, ich bin relativ gut aufgestellt, was meine Ressourcen und mein soziales Umfeld angeht. Aber ich würde mir wünschen, dass es in der Krise eine bessere Anlaufstelle gäbe als die Klinik, in der ich war. Ich bin dankbar, dass es überhaupt etwas gab, aber ich bin auch erschüttert, wie unterentwickelt das Hilfsangebot noch ist. Ich fühlte mich, als sei ich der erste Mensch in der Krise. Als hätte das die Welt noch nie erlebt oder zumindest diese Klinik noch nicht.