Autor:in: Rolf Sasse

Felix – Der Glückliche

Es war wohl ein Sommertag in den späten fünfziger Jahren. Wer käme auf die Idee, einen Jungen von fünf Jahren mit in ein schlecht riechendes Kino zu schleppen, um ihn dort einen Kriegsfilm anschauen zu lassen? Für meinen Vater, der selbst Soldat im Frankreichfeldzug gewesen war, schien das keine so üble Idee für eine Unternehmung zu sein. Ich kannte Exkursionen solcher Art schon zur Genüge und folgte ihm mit verfinstertem Gemüt die Stufen empor. Längst hatte ich aus vorausgegangenen leidvollen Erfahrungen gelernt, mich – selbst an den schönsten Tagen – in Vaters Gegenwart gefühllos zu machen, in eine zum Selbstschutz aufgesetzte Starre zu verfallen. Auf diese Weise überstand ich, tief in den Kinosessel gepresst und teils mit zugehaltenen Ohren, die Sequenzen von geschrienen Befehlen, MG-Geknatter und heulenden Bombardements während einer gefühlten Ewigkeit.
Wir verließen das Lichtspielhaus, und der Abend rückte heran. Vater wirkte ruhig. Es schien ihn nicht zu interessieren, wie ich all das gesehene Schrecken verdaut hatte. Zu Hause angekommen setzten wir uns in die Küche. Meine Mutter bereitete das Abendbrot vor: Vater trank sein übliches Bier, welches nicht das letzte an diesem Tag bleiben sollte. Dabei redete er, wie des Öfteren, mehr zu sich selbst als zu uns. Er erwartete wie gewöhnlich keine Antworten und so hörten meine Mutter und ich nicht hin. Dann verstummte er für vielleicht eine Minute. Als ich zu ihm hinübersah, lächelte er, wie ich das nicht oft bei ihm erlebte. Sein versunkener Blick war auf das Muster der Bodenfliesen gerichtet, das sich wirr dahinzog. Langsam hob er den Kopf in meine Richtung und blickte mich mit dieser seltenen Wachheit und Zugewandheit an, nach der ich mich doch so unablässig sehnte. „Weißt du, Junge“, begann er, „welchen Spitznamen man mir mal gegeben hat?“
„Nein, Papa.“ „Felix – der Glückliche.“ In den Sekunden danach schien sich für meine Wahrnehmung alles im Raum zu verändern. Freude und sorgenfreie Leichtigkeit füllten für Momente die Leere unseres familiären Daseins. Mit der leise und so sanft gesprochenen Namensformel blitzte eine Seite in meinem Vater auf; ein Talent, plötzlichen Zauber in eine Situation zu bringen, in der danach nichts mehr wie vorher zu sein
schien.
„Wo war das, Papa?“ fragte ich, bemüht, einen Ankerpunkt für das überraschende Geschehen zu finden. Doch er schwieg, immer noch lächelnd.
Er erwähnte es nie wieder. Auch auf mein späteres drängendes Nachfragen hin nicht. Irgendwann gab ich es auf. Auch diesen seligen Ausdruck in seinem Gesicht, der ihn im selben Moment um Jahrzehnte jünger erschienen ließ, nahm ich nie wieder an ihm wahr.
Ich hatte ihn noch einige Male mit dem Namen Felix angesprochen, vergeblich. Eher unwirsch reagierte er darauf. Der Zauber zeigte sich nicht mehr.
Es war wohl nur ein Sekunden kurzes Zeitfenster gewesen, eine Reise während eines Augenblicks zu einem inneren Glücksort, mit dem Reflex, selbigen sofort wieder zu verlassen und den Schlüssel zu diesem Schatzkästchen vor sich selbst auf lange Zeit zu verstecken. Als bedürfe dieser Ort eines besonderen Schutzes, als hielte er den Stürmen und Herausforderungen des täglichen Lebens nicht stand.
So blieb ich zurück mit dem Rätsel, dem er mich überließ, suchte noch viele Tage danach in alten Landkarten, jenen magischen Ort, der die Verwandlung im Wesen meines Vaters bewirkt haben mochte. Bis ans Ende der Welt wäre ich mit ihm gefahren, nur um ihn wieder so lächelnd zu sehen und seinen weichen träumerischen Blick auf mir zu fühlen.
Noch sehr viel später in meinem Leben spekulierte ich über das Ereignis und musste erkennen, dass es dieses „wo“ gar nicht gab. Glück war anscheinend nicht dafür gemacht, eine Heimat im Äußeren zu haben, in der es sich ausbreiten und gedeihen konnte. Glück, das war für Menschen wie meinen Vater eine zu seltene und damit irreal anmutende Erfahrung, die ins Reich der Träume zu gehören schien.
Verschlossen und im Herzen verkapselt konnte er sich von tief innen her Trost spenden in Not und großer Gefahr. Vielleicht hatte eine frühere Geliebte einst den Kern seines Wesens entdeckt, und ihm – in einem Zustand inniger Herzensnähe – diesen Kosenamen gegeben. Für den Soldaten an der Front, der er ja gewesen war, hatte sich das als ein Amulett und letztes Pfand erweisen können in der plötzlichen Begegnung mit dem Tod, dem man es sterbend entgegenhielt und mit ihm die letzten Minuten als einen sinnhaften, wärmenden Strom beglückender Empfindungen aushandelte.
Felix – der Glückliche. Vielleicht, ja vielleicht lag die Magie dieses Namens gerade in einer solchen möglichen Verwendung begründet.