Autor:in: Heike Oldenburg

Fremde Blicke = die eigenen Blicke oder Gedanken?

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Die Graphic Novel „Fremde Blicke“ von Cynthia Häfliger erzählt die Geschichte des jungen Lars, der eine Psychose durchlebt. Heike Oldenburg hat das Buch für uns gelesen.

Es lohnt sich, das Buch „Fremde Blicke“ erst einmal durchzublättern! Es passt sehr gut ins Verlagsprogramm (Bilderbücher). Es ist nicht die erste Graphic Novel im Programm.
Der Anfang der „Geschichte“ wird auf „schon 2 Jahre?“ geschätzt, als der schizophrene Bruder das erste Mal beim Hanf Rauchen entdeckt wurde.

Die Zeit fliegt in „Fremde Blicke“. Die Graphic Novel hat keine Seitenzahlen. Die Malweise ist bunt-luftig. Die gemalten Wasserfarben sind ausdrucksstark. Stadtlandschaften werden gezeichnet, in denen sich die 4-köpfige, „normale“ Familie Zihler bewegt. Diese Stadtlandschaften sind modern, aber mit weniger Lichtspielen als in „Lichtpause“ bei Nino Paula Bulling.

Der Schwester Yael gegenüber macht der psychotische Lars Grimassen,
mit denen er anderen Menschen Angst machen will. Seine Gesichtsausdrücke sind beängstigend-zerfasert-zitterig gezeichnet. Mit lauter Stimme ruft Lars hinter der roten Gardine als schützender Trennung dem Vater Martin zu: “FASS MICH NICHT AN!!“ Die laut-roten Großbuchstaben füllen großflächig die Seite. Lars muss sich auch gegen die Mutter Annette wehren: Auf ihr „Du brauchst Hilfe, Lars.“ reagiert er mit „MIR GEHT‘S SUPER“. — Es stimmt, dass eine Krise als schön empfunden werden kann. In einer Psychose sein bedeutet nicht immer Leiden. Und „wir“ haben ein Recht auf das Leben unserer andersartigen Zustände.
Yael schaut nach den Erscheinungsformen psychischer Veränderungen im Internet.Sie erkennt, dass die Diagnose Schizophrenie passt. Ihre Mutter Annette sagt: Per Internet „geht gar nicht“. Geht das wirklich gar nicht?

 

 

Es ist eine Hilfe für den Anfang und für weitere Entscheidungen im Umgangmit dem Bruder. Denn durch das Komisch-Sein von Lars war für ihn sowie für die Angehörigen alles verändert. Jede:r im Familienverbund zog sich in sich zurück. Ansichten und Haltungen prallten aufeinander: War Lars so erzogen oder war es angeboren? Mit zerfasert-zittrigen Linien sind diese Zeiten voller Zweifel gemalt.Die Frage: „Was machten wir falsch?“ unterstellt, dass die Angehörigen etwas falsch gemacht haben. Besser ist die Fragestellung: „Haben wir etwas falsch gemacht?“ Auch die an anderer Stelle gestellte Frage: „Haben wir versagt?“ entspricht zwar unserem Bedürfnis nach einfachen Ursachen, scheint mir aber ebenfalls nicht hilfreich. Wo auch immer Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis herkommen – wissenschaftliche Beweise, im Sinne einer lückenlosen Ursachen-Wirkung-Kette gibt es bisher nicht –: Zwei Drittel der Psychosen aus dieser Gruppe kommen nie wieder. In Lars‘ Angehörigen blieb ein bedrückendes Schweregefühl.  Die Familie fragt sich, ob Zwang OK sei. Der Sohn schien die Psychiatrie zu brauchen. Aber was ist mit seiner „Würde“, seinen „Rechten“ und seinen „Gefühlen“, fragt Martin?Am Ende geht Lars doch in die Psychiatrie. Er fühlt sich in der Psychiatrie sehr verloren. Dort sieht es hell, bunt und gut aus. Wahrscheinlich ist mit diesen Zeichnungen eher Lars‘ inneres Erleben gemeint. Eine solche Psychiatrie habe ich leider noch nie erlebt. Schön wäre es.
Oft hängen kaum Bilder in den (geschlossenen) Stationen, denn die in einer Station zusammengepferchten Menschen in verschiedenen Arten von Krisen gehen mit Wandbehang eher aggressiv um.Lars‘ Ängste werden im zweiten Drittel der Graphic Novel als zauberhafter RegentropfenWald gezeichnet. Lars‘ Ruhe ist für die Familie schlimmer als seine größte Wut. Er verbietet dem Personal, seiner Familie etwas über ihn zu sagen. Die Familie bleibt hilflos zurück. „Er ist doch mein Sohn!“ jammert Martin. Eine Schweigepflicht besteht auch der Familie gegenüber. Das Recht auf eigene Gefühle, eigenes So-Sein ist gegeben.


Später versucht Lars, der Familie die Psychose zu erklären („Sie sagen, …“). Auf sechs Seiten ist das psychotische Erleben mit blauer, optisch-zersplitterter Schriftführung beschrieben. Kurz vorm Ende des Buches ist von „Krankheitsbild“ die Rede. Ob eine Psychose eine Krankheit ist, ist umstritten. Einer solchen würde ich mich ausgeliefert fühlen. Für mich ist es gut, es als Zustand zu denken, der mir etwassagen will. So scheint es sinngebend und ich kann besser damit umgehen.
„Fremde Blicke“ unbedingt lesen! In allen Behandlungsstellen vorrätig halten!
Heike Oldenburg, Juni 2022

 

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