Sabine Weber: Wie bist Du da gelandet, wo Du jetzt bist?
Dieter Groß: Ich bin durch das Job Center dazu gekommen. Es hat sich im Laufe der Zeit so ergeben, dass ich beim Arbeiter Samariter Bund angefangen habe. Dort hab ich dann den Fahrdienst übernommen, weil ich in meinen vorherigen Jobs beim Deutschen Roten Kreuz und bei der Freien Christengemeinde Erfahrungen als Fahrer gesammelt habe.
S: Wie lange machst du schon diese Fahrertätigkeit?
D: So seit 2004. Beim Eintritt meiner Arbeitslosigkeit wurde ich von den Trägern, die Leute beschäftigen, herumgereicht, so ergeht es vielen glaube ich.
S: Warum ist Arbeitslosigkeit bei dir entstanden?
D: Gesundheitliche Gründe, unter anderem auch im psychischen Bereich.
S: Deswegen hast Du wohl auch beim Arbeiter Samariter Bund angefangen und nicht bei anderen Trägern, wo körperliche Behinderungen im Vordergrund sind, oder?
D: Es kommt einiges zusammen, ich trenne das für mich nicht, weil das eine mit dem anderen oft verbunden ist oder sich gegenseitig bedingt. Mit Anfang 20 habe ich als Zivildienstleistender mit körperlich behinderten Erwachsenen und Kindern zu tun gehabt, von daher ist mir das alles nicht so ganz fremd. Nach dem Zivildienst habe ich Sozialarbeit studiert, aber nicht bis zum Ende, deshalb bin ich dann Taxi gefahren und das hat mich oft gestresst.
S: Was hat Dich da gestresst?
D: Die Existenzängste, ich hatte nur Umsatzbeteiligung, stand somit unter finanziellen Druck. Oft bin ich ganz viel gefahren, wenn das Geld nicht reichte. Dann habe ich täglich 10 oder 12 Stunden im Auto gesessen. Und manche Fahrgäste waren auch ekelig, es gab Leute, die benahmen sich so, als hätten sie mich als Mensch gleich mit gemietet, so wie einen Diener. Dann habe ich für den Arbeiter Samariter Bund gearbeitet zuerst als Ein-Euro-Jobber. Nach einiger Zeit habe ich mich dann offiziell beworben um einen regulären sozialversicherungspflichtigen Arbeitsvertrag zu bekommen. Eine Zeit waren es befristete Arbeitsverträge, seit circa. 2006 ist mein Vertrag entfristet.
S: Was erlebst du täglich mit den Menschen die dir begegnen?
D: Mein Erleben ist sehr vielfältig, ich habe mit Kindern und Erwachsenen zu tun.
Die Beeinträchtigungen sind unterschiedlich, auch innerhalb der Gruppen. Bis zu einem gewissen Punkt verstehe ich mich als Dienstleister. Wenn einige aber meinen, der Fahrdienst ist ein kostenloses Taxi, was sie immer bestellen können, kläre ich darüber auf, dass es nicht so ist. Wer den Fahrdienst nutzen will, muss das seinem/r Betreuer/in mitteilen. Der Fahrdienst schaut dann nach Kapazitäten und vereinbart einen Termin. Zur Bremer Tafel fahre ich öfter, einige Menschen begleite ich auch innerhalb der Tafel. Dann stehe ich beispielsweise mit in der Warteschlange und erlebe die pure Realität, anderes als es oft in der Zeitung steht. Einige sind gierig, dann wird gedrängt, geschoben und geflucht. Die Atmosphäre ist dann aufgeladen und es kann ein unangenehmes Klima entstehen. Aber so sieht das praktische Innenleben der Tafel aus.
S: Kannst Du mir noch mehr Erfahrungen mitteilen, die so anschaulich sind ?
D: Ja, zum Beispiel was das Verhalten einiger Fahrgäste beim abholen angeht. Dann ist es oft so, dass zwei Systeme aufeinander prallen: Das gut organisierte System mit Planung, Uhrzeit und Fahraufträgen, trifft dann auf Menschen die nicht gut organisiert sind, zum Teil mit Planung und Organisation große Probleme haben. Es gibt Menschen, die haben zwar ihren Termin, sind aber überhaupt nicht darauf eingestellt weil sie kein Zeitgefühl haben. Manchmal klingel ich und dann kommt erst nach einer gewissen Zeit etwas über die Gegensprechanlage, zum Beispiel: “Ich fühle mich heute nicht so….”, dann darf ich wieder weg fahren. Oder es wird gesagt: “Ich komme gleich” und nach einer Viertelstunde ist noch niemand zu sehen und dann werde ich ungeduldig, weil ich Termine habe. Ich habe auch schon mal jemanden angefeuert, zum Auto zu kommen, wenn dann nichts geschieht ist es für beide Seiten traurig wenn ich weg fahre. Viele Leute können das nicht nachvollziehen, wenn ich unter Zeitdruck stehe. Und ich will den Menschen das dann auch nicht noch belastend immer sagen, so in dem Sinne: “Wir müssen uns jetzt beeilen”, zwar liegt mir das manchmal auf der Zunge, aber das ist eine hohe Anforderung an mich, dass ich mental in der Lage bin zu trennen, zwischen den Leuten und ihren Schwierigkeiten und meinen eigenen Interessen. Was insgesamt so auffällt ist, dass jeder/e einzelne mal unterschiedlich sein kann und dann kann man mal seine Maßstäbe überprüfen oder über den Haufen werfen. Der so genannte “normal lebende Mensch“, der meint er hätte alles im Griff und die Maßstäbe der Leute mit denen ich zu tun habe, unterscheiden sich oft erheblich.
S: Kommunizierst Du viel mit Menschen die Dir begegnen?
D: Zumindest mache ich ein Angebot, weil es meine Erfahrung ist, wenn ein bis zwei Minuten nichts gesagt wird, kann die Chance für ein Gespräch vorbei sein. Dann stelle ich beispielsweise einfache Fragen wie: “Kann ich Ihnen helfen?” wenn jemand an der Tür steht und hat zwei schwere Taschen in den Händen – Oder beim Einladen eines Rollators, da kann es sein, dass ich jemanden treffe, der hat einen ganz modernen und dann kann ich sagen: “Es gibt auch alte, die wiegen richtig viel, sind zwar stabil, aber auch schwer und klotzig und lassen sich schlecht zusammen legen. Ihrer dagegen ist ja leicht, das ist sehr angenehm für mich.” – So könnte dann ein Gespräch entstehen. Bei Kindern gibt es für mich keine Notwendigkeit ein Kommunikationsangebot zu machen, weil die oft von selber wie wild auf mich einreden. Wenn ich in ein Gespräch gekommen bin, höre ich manchmal Schicksale oder kriege sie mit. Mitarbeiter die weit über Ihre Grenzen gearbeitet haben und dann plötzlich herausfallen aus dem System. Oder wieder andere die darunter leiden, dass sie nie im System drin waren. Weil sie von Kind oder Jugend an beeinträchtigt und bedürftig waren. Und in irgendeiner Weise umsorgt oder in Heimen aufgewachsen sind.
S: An welchen Orten begegnest Du den meisten Leuten?
D: Den meisten in der eigenen Wohnung. Es gibt Leute die können gar nicht mit mir reden, weil sie nur das erzählen was ihnen gerade durch den Kopf geht, somit reagieren die gar nicht auf mich. Die haben dann sozusagen einen Tunnelblick oder Tunnelgefühle. Das ist dann eine sehr einseitige Angelegenheit.
S: Was für Gefühle erlebst Du in deiner Arbeit?
D: Viele Klienten sind manchmal von Woche zu Woche unterschiedlich drauf, wenn ich zum Termin erscheine. Wenn es Ihnen gut geht sage ich das dann auch explizit. Mit einigen fahre ich regelmäßig zur Ergotherapie oder zum Mittagessen in die Villa Wisch. Es kommt vor, dass einige ihre Wohnung nicht verlassen und dort versauern. Die Depressionen oder Antriebsprobleme haben, die brauchen den Termin, um sozusagen etwas zu haben, wo sie sich dran hoch rappeln, das nutzt auch was.
S: Kannst du mir etwas darüber sagen wie Einzelne sich über längere Zeiträume hinweg entwickeln?
D: Es gibt Leute die kommen eine Zeit lang gut klar, und dann kommen sie wieder an einen Punkt, wo sie in die Klinik müssen. Für viele Menschen kommt der Kreislauf immer wieder an diesen Punkt, wo sie wiederholt in einer Klinik landen.
S: Was ist Dein persönlicher Standpunkt, warum ist das so?
D: Oft habe ich das Bild, dass wir uns alle, mich eingeschlossen, auf einem dünnen Eis bewegen, was die vielfältigen psychischen Krisen und Verletzungen angeht. Tendenziell bin ich manchmal auch nicht weit weg von Einbrüchen, aber ich kann mich über Wasser halten. Im Laufe der Zeit habe ich einige Fähigkeiten entwickelt, die das möglich machen. Bei meinen Fahrgästen sehe ich die Problematik dann ähnlich wie bei mir, aber in verstärkter Form. Nicht alle sind dann in der Lage ihre Probleme zu managen und ich weiß, was das dann für Folgen haben kann.
S: Wie stehst Du zu Medikamenten?
D: Ich vertraue auf meine Selbstheilungskräfte, mich an das zu erinnern was mir hilft, in der jeweiligen Situation. Um wieder am nächsten Tag weiter zu machen.
S: Du hast das Wort mental benutzt, was bedeutet das für Dich?
D: Das Wort mental, was auch im Sport manchmal fällt, ist eine hohe Anforderung für mich. Es gibt leider auch Menschen die sich umgebracht haben, weil sie aus dem genannten Kreislauf nicht mehr heraus gekommen sind. Selbstmord ist auch ein Thema, mit dem die Betroffenen und alle anderen Beteiligen einen Umgang finden müssen. Da ist es für mich wichtig in erster Linie mentale Lösungen zu finden, um mein Entsetzen über einen Selbstmord zu überwinden. Wenn ich persönlich in die Lage komme keine mentalen Lösungen mehr zu finden, würde ich vielleicht auch auf Medikamente zurück greifen. Weil Medikamente dazu befähigen können irgendeine Therapie zu machen. Zum Beispiel eine Gesprächstherapie, wo ich sonst vielleicht sagen würde: Nö, das ist alles Mist, ich mach jetzt gar nichts mehr. Keinen Schritt vor die Tür, will mich auch nicht mehr duschen und mein Essen stelle ich auch ein. Alle lebenserhaltenden Maßnahmen werden eingestellt. Das sind Verhaltensweisen, die ich als Alarmzeichen oder auch als Hilferuf verstehe.
S: Konntest Du bei den Menschen, die einen endgültigen Entschluss gefasst haben, etwas voraussehen?
D: Meistens kam es überraschend und ich war entsetzt. Nur im nachhinein habe ich vielleicht die Möglichkeit gehabt, mir etwas zusammenzusetzen aus den verschiedenen Episoden. Wenn Betroffene immer wieder in die Klinik kamen, nach einem halben Jahr heraus gekommen sind und nach einem folgenden Vierteljahr wieder hinein und das dann immer wieder über die Jahre, bis sie dann endgültig aufgegeben haben und aus dem Leben geschieden sind. Der Intellekt kann nicht alles allein bewältigen, wenn der ganze Geist nicht mehr in der Lage ist, Herr zu sein im eigenen Hause. Man muss sich Hilfe holen Medikamente können ein kleiner Anfang sein, wichtig finde ich Mechanismen zu erlernen, reflektieren zu können und Einiges andere mehr, um Krisen bewältigen zu können. Wenn die Gefühle nicht mitspielen, kann man noch so viel Einsicht haben.
Vielen Dank Dieter Groß.