Zuerst möchte ich eine Anekdote erzählen, die ich sehr bemerkenswert fand. Ich fand mich vor einigen Jahren in der geschlossenen Abteilung des Krankenhauses Bremen Ost, und hatte dort einen Zimmernachbarn, der mit Schizophrenie diagnostiziert war. Ich hatte das Buch “Morgen bin ich ein Löwe” dabei, obgleich ich es schon mehrmals durchgelesen hatte. Mein Zimmernachbar war ein kurioser Fall; er sprach nie, ließ sich nicht ansprechen, und verbrachte den Großteil seines Tages damit, Radio zu hören. Aber er stellte keinen Sender ein, sondern lauschte Tag für Tag nur dem Rauschen, in voller Lautstärke. Ich verbrachte dementsprechend nicht viel Zeit im Zimmer, das war schwierig auszuhalten. Das Buch lag eines Tages auf meinem Nachtschrank, und ich war den Tag über auf der Station. Als ich abends in das Zimmer ging, fand ich das Radio ausgestellt vor und meinen Zimmernachbarn, der eigentlich nicht ansprechbar war, in das Buch vertieft. Anscheinend hat ihn der Titel gereizt, mal rein zu schauen, und so las er es; er, der ansonsten nicht von dieser Welt schien, fand die Konzentration. Ich stand kurz vor meiner Verlegung auf eine offene Station, und so schenkte ich ihm das Buch in der Hoffnung, es möge ihm genauso helfen wie mir. Ich habe seinen Werdegang nicht weiter verfolgt, das wäre wohl auch nicht möglich gewesen, aber ich fand das ganze schon erstaunlich; wo anscheinend sonst keiner an ihn ran kam, schaffte Lauveng es, und das über Buchform.
Ich bin über Arnhild Lauvengs erstes Buch “Morgen bin ich ein Löwe” bereits vor zehn Jahren gestolpert; wenn ich mich recht entsinne, beim Informieren über die Krankheit, mit der ich diagnostiziert wurde. Ich habe damals versucht, mich möglichst umfassend über das Thema zu informieren, denn das schien mir der einzige Weg zu sein, eine Lösung für mein Problem zu finden. Die Autorin hat maßgeblich zu dieser Lösung beigetragen.
Arnhild Lauveng ist Psychologin. Sie hatte den Plan, Psychologin zu werden, bereits in der sechsten Klasse gefasst, wie sie in “Nutzlos wie eine Rose” beschreibt. Doch der Weg dorthin war steinig und hart, denn mit 17 wurde sie das erste Mal in die geschlossene Station einer Psychiatrie eingewiesen. Mit 16 brach bei ihr die Schizophrenie aus. Dies beschreibt sie recht eindrücklich und ohne Scham in “Morgen bin ich ein Löwe”: Die Stimmen, die ihr befahlen, die Hoffnungs- und Hilflosigkeit, die damit einherging. Ihre behandelnden Therapeuten glaubten, einen chronischen Fall vor sich zu haben. Sie glaubten nicht an Heilung. Lauveng schon, und sie sollte recht behalten.
“Morgen bin ich ein Löwe” ist also in erster Linie ein autobiographisches Buch. Es beschreibt Lauvengs Weg, wie die Krankheit bei ihr ausbrach, sehr detailliert, die verschiedenen Stimmen, die, wie sich erst später herausstellt, Funktionen bei ihr ausübten. Am prominentesten ist dabei “der Kapitän”, eine autoritäre Stimme, die ihr unlösbare Aufgaben stellte. Sie interpretiert diese Stimme später als metaphorische Übersetzung ihres Gehirns ihrer eigenen übersteigerten Leistungsanforderungen. “Wie ich die Schizophrenie besiegte” ist der Untertitel des Buches, aber eigentlich ist das hier Beschriebene eher ein “Wie ich lernte die Schizophrenie zu verstehen”. Denn während Medikamente bei ihren Stimmen anscheinend nicht viel ausrichteten, war es ein verstehender Ansatz, die Bilder, die in der Psychose auftauchten, einzuordnen, der letzten Endes den erwünschten Erfolg brachte.
“Nutzlos wie eine Rose” ist dagegen eher aus der Sicht der Psychologin geschrieben. Es hat auch autobiographische Anteile, aber diese stehen nicht so sehr im Vordergrund wie in “Morgen bin ich ein Löwe”. Vielmehr ist das Buch allgemeiner gehalten; gerne arbeitet Lauveng mit Beispielen aus ihrer eigenen Krankheitsgeschichte oder eigenen Beobachtungen, sowohl als Psychologin als auch als Patientin, um einen Punkt zu vermitteln. “Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit in der Psychiatrie” ist es dabei sehr wohl, ohne jedoch sich selbst darauf zu reduzieren, die Psychiatrie in der heutigen Form schlecht zu machen. Vielmehr wird die Komplexität und Schwierigkeit dargestellt, die damit einhergeht, in diesem Berufsfeld zu arbeiten. Insofern ist das Buch nicht nur für Betroffene, sondern auch für Menschen vom Fach durchaus inte-ressant. Jedes Kapitel wird dabei mit einem Gedicht eingeleitet; eines davon “Nutzlos wie eine Rose”, daher der Titel. Die Gedichte sind hauptsächlich von ihr selbst während ihrer psychotischen Zeit geschrieben worden.
Lauvengs Geschichte fand ich persönlich sehr inspirierend. Obschon von einer gruseligen Krankheit für Jahre außer Gefecht gesetzt, findet sie ihre Hoffnung und ihren Glauben doch wieder, schafft es, ihre Krankheit zu überwinden, und wird in ihrem Leben doch noch Psychologin.
Speziell “Morgen bin ich ein Löwe” ist dabei durchaus sehr schonungslos und offen, was natürlich auch abschreckend wirken kann. Man sollte also, wenn man ihre Bücher lesen möchte, sich darauf einstellen, geschockt und bewegt zu werden; mir zumindest kamen mehr als einmal leicht die Tränen, wohl auch, weil ich ihre Erfahrungen ein Stück weit nachvollziehen kann, manchmal aber auch, speziell in “Nutzlos wie eine Rose”, weil die Geschichten einfach schön sind.
Es ist nicht häufig, dass man Betroffene und Behandelnde in einer Person hat wie hier, weswegen ich diese Literatur, auf ihre Weise, für absolut einzigartig halte. Es zeigt beide Seiten, die der Patienten wie die der Behandelnden, sodass man tiefe Einblicke erhält.