Als „[…]sehr oft alles andere als sonnig“ beschreibt Elvira Manthey, geb. Hempel, die Tage, Monate und Jahre ihres Lebens von denen sie in ihrem Buch erzählt.
Schon früh lernt sie was es bedeutet „eine Hempel“ zu sein. Die Familie ist arm und Elvira eines von vielen Kindern. Ihr Vater, den sie selbst als Edelganoven bezeichnet, treibt sich viel herum und gibt das Geld oft schneller aus als er es aus seinen dubiosen Quellen beschaffen kann. So wird Elvira, wie auch ihre Geschwister, zu einer Überlebenskünstlerin, einfallsreich und zäh.
Ihre Mutter jedoch ist zunehmend überfordert, gibt Elviras jüngere Schwester direkt nach der Geburt in ein Heim und wendet sich schließlich an das Jugendamt.
Nachdem auf dieses Hilfegesuch der Mutter hin zunächst drei ihrer Brüder aus der Familie genommen worden waren, wird auch Elvira 1936 „[…]vom Jugendamt entführt“ und in einem Heim untergebracht. Von dort aus wird sie 1938 in ein „Irrenhaus“ überstellt, nachdem man ihr „[…] unterwertige geistige Fähigkeiten“ sowie „Debilität und Psychopathie“ attestiert hatte.
In der Anstalt lebt die Sechsjährige unter Kindern mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen, wird Zeugin von Morden im Namen der NS-„Rassenhygiene“. Auch sie selbst ist im Sinne dieser vermeintlichen Aufwertung völkischen Erbgutes durch Selektion für „minderwertig“ befunden worden. Diese Einstufung geschah, wie sie später schlussfolgert, aufgrund ihres familiären Hintergrundes, der ihr vorenthaltenen Bildung sowie ihres Verhaltens im Heim. „Alle Strafen und Verwarnungen umsonst“, heißt es dazu in ihrem ärztlichen Zeugnis.
Zwei Jahre lang verbleibt sie in der Anstalt, bis sie im Jahr 1940 erneut verlegt wird und der Ermordung nur knapp entgeht, der viele andere Kinder noch am selben Tag zum Opfer fallen. Ihre Geschichte geht weiter.
Elvira ist und bleibt „[…]eine Hempel und zäh.“, doch die Erlebnisse ihrer frühen Kindheit begleiten sie durch alle weiteren Stationen ihres Lebens. Durch weitere Anstalten und Heime, den Alltag im Bombenkrieg und die Wirren der Nachkriegszeit. Über ihr Trauma sprechen kann sie lange Zeit nicht, obwohl ihr Trauer, Wut und das verlorene Vertrauen viele Dinge des alltäglichen Lebens erschweren. Erst in den 80er Jahren und nach einem Nervenzusammenbruch beginnt für sie die Aufarbeitung, der Kampf um Anerkennung, Entschädigung und Rehabilitation, dem sie den letzten Abschnitt ihres Buches widmet.
Elvira Mantheys Zeitzeugenbericht, begleitet von Illustrationen und Fotos und belegt durch Auszüge aus offiziellen Dokumenten, geht unter die Haut. Sie ermöglicht ihren Leser:innen einen wertvollen Einblick in die Wohlfahrtspflege und Fürsorgeerziehung zur Zeit des Nationalsozialismus. In einfacher Sprache und klaren Worten vermittelt sie Eindrücke von den Misshandlungen, Selektionsprozessen und den NS-Krankenmorden aus der Sicht eines Kindes.
Zudem zeigt sie, wie sehr ihr die ohnehin schon schwierige Aufarbeitung des Erlittenen von offizieller Seite her zusätzlich erschwert wurde. Sie schildert den kräftezehrenden bürokratischen Aufwand ausführlich, veröffentlicht Abschriften von Briefen, Anträgen und Petitionen. Auch 22 Jahre nach der Erstveröffentlichung ihres Buches im Jahr 1999 behandelt sie damit noch ein relevantes und aktuelles Thema.
Das Buch ist für jeden politisch, zeit- und/oder medizingeschichtlich interessierten Menschen eine absolute Empfehlung. Eine Lektüre die gleichermaßen fesselt und betroffen macht.
Reprint der im Hempel-Verlag erschienenen Ausgabe von 1999, erschienen 2021 im Mabuse-Verlag
302 Seiten, erhältlich als Taschenbuch (ISBN 978-3-86321-613-9) für 19,95€ oder E-Book (ISBN 978-3-86321-580-4) für 15,99€
Ein bedrückendes und relevantes Thema. Die Rezension macht Lust das Buch zu lesen.
Danke!