Thelke Scholz hielt in Bremen in der Friedensgemeinde (Veranstalter war die Innere Mission) drei Vorträge an verschiedenen Tagen und zwar: „Wege der Genesung“ für Betroffene, „Vom Mut machen und Durchhalten“ für Angehörige und „Wege der Begleitung“ für Profis.
Am 19. Juni 2018 startete der dritte Vortrag, an dem ich teilnahm. Einmal durch einen dunklen Gang des Gemeindezentrums und dann in den hintersten kleinen Raum. Ein kleiner Raum ohne Stühle, und eine Frau schaute durch die Schiebetür rechts von mir. Für mich etwas irritierend. Dann stellten wir uns gegenseitig vor, die Referentin und ich stellten einen Stuhlkreis. Ich war gespannt. Acht Teilnehmer – vier sind sogar extra aus Bremerhaven aus dem Arche Café angereist. Die Zielgruppe waren „Profis“, davon waren nur vier ihrer professionellen Ausbildung nach „Profis“.
Thelke Scholz begann ganz bewegend mit ihrer eigenen Geschichte: Sie sei Thelke Scholz und sähe sich selber nicht als Psychosepatienten. Für mich beeindruckend, sagte sie, dass sie den Text vorlesen werde, um Distanz zum Gelesenen zu haben und nicht vom Erlebten überflutet zu werden. Sie hat ein „Tool“ gefunden, ihre Geschichte souverän weitergeben zu können. Schon im Alter von 14 Jahren hatte sie immer wieder Weinkrämpfe. Die Erklärung der Erwachsenen war: Sie will nur Aufmerksamkeit haben! Oder: Es ist gerade ihre Modewelle… oder es wurde schlichtweg mit der Pubertät abgetan.
Das machte Angst. Angst, nicht ernst genommen zu werden. Angst, was ist mit mir? Angst, alleine zu sein. Jedoch wurde auch nach einer medizinischen Erklärung gesucht. Der Stempel war: Chemisches Ungleichgewicht im Gehirn. Mit 20 Jahren kam sie in die Klinik. Wie Thelke es nannte: „Kam dann die chemische Keule. Auf einmal war alles still und leer. Mein Leben war still und leer. Das Gehirn war ausgeknipst. Meine Ziele waren verschwunden. Die Medikamente trennten mich von meinen Träumen. Dabei wollte ich doch leben!“.
Sie sprach über „ihren Terminplan“. Essen – Medikamente – Schlafen – Fernsehserien – Schlafen – viel Schlafen. Alleine – im Bett – isoliert – draußen war das Leben. Sie hatte keine Scheu über sehr intime Verluste zu reden und berichtete auch über schwerwiegende Nebenwirkungen ihrer Medikamente. Neues Symptom, neues Medikament. Aber nichts kam in ihrem Kopf wieder ins Gleichgewicht. Symptome können nicht einfach wegtherapiert werden. Pille und alles ist wieder gut – gibt es nicht! Aus dem Dunkel muss man selbstständig wieder ins Licht kommen. Angehörige sind mit betroffen. Wollen helfen. Fühlen sich hilflos – ohnmächtig. Alles ist traurig, kräftezehrend. Nicht nur der Patient hat Angst, sondern genauso die Angehörigen haben Angst – Angst vor der Zukunft.
Man hing an ihren Lippen und immer mehr erlebte man ihre Not. „Ich hatte keine Konzentration mehr, um über eine Seite in einem Kinderbuch lesen zu können.”. Die übliche starke Gewichtszunahme, ständiger Dämmerzustand, kein Erinnerungsvermögen, Zucken der Beine und Gesichtszüge…
Bei einem neuen Arzt wurde Thelke Scholz gefragt – gefragt zu werden, war neu für sie. Sonst wurde immer bestimmt, aber keine eigene Meinung erwartet – vielleicht auch nicht erwünscht? Verantwortung. Auf einmal konnte sie Verantwortung übernehmen, und dies verlieh ihr neue Kraft und Mut. Nach zehn Jahren nur eine innere Hülle zu sein, wuchs der diffuse Wunsch nach mehr. Über zwei Jahre lang schlich sie die Medikamente mit professioneller Hilfe aus. Gequält von Dämonen, Misstrauen, Verfolgungswahn und vielem mehr waren die Nebenwirkungen der Medikamentenreduzierung. Die schützende Wand (Medikamentenwirkung) verschwand allmählich. Sie konnte sich nicht mehr hinter ihrer Krankheit verstecken. Thelke Scholz: „Ich war 35 Jahre alt und hatte keine Ahnung, wie gehe ich jetzt mit allem um: Wie händel ich meine starken Gefühle? Wie funktionieren zwischenmenschliche Beziehungen? Ich machte eine emotionale Reifung im Dauerlauf durch. Ich hatte eine neue Daseinsberechtigung: Thelke Scholz zu sein. Nicht den Makel „unheilbar krank“ zu sein, wohin auch die Reise ging. Genesung sei anstrengend – ein aktiv beschrittener Weg. Es bedürfe eines Weges im Mittelmaß. Manchmal war leise der Wunsch nach dem „Ausknopf: Pille“ da.
Aber es ist ihr gelungen, einen anderen Weg zu gehen. „Mir ist das Kunststück gelungen! Ich lebe ohne Psychopharmaka und habe mein volles Bewusstsein wieder zurück! Ich bin keine chemische Kapsel aus Einsamkeit mehr! Referentin zu sein, war lange Zeit unmöglich. Überhaupt nicht vorstellbar!“. Ihr neues Projekt: Ein Buch mit dem Titel: ‘Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen’. Im September diesen Jahres wird es für 25 € erscheinen.
Trotzdem ist sie jetzt nicht die Starke. Das Dunkle muss weiterhin Platz in ihr haben. Es bleibt Teil ihres Lebens. Sie braucht Licht. Wir alle brauchen Licht zum Durchhalten im Leben. Was gibt dem Leid Licht? Sie braucht weiterhin ein stützendes Netzwerk – keine Therapie. Ein Netzwerk – Profis, Freunde, Menschen, die einfach da sind, in deren Augen sie gesehen wird und Wissen: ‘Ich bin nicht alleine. Und ich bin nicht nur die starke Referentin, sondern auch die schwache Psychiatrie – Erfahrene’. Begleitung durch Vorleben. Begleitung durch Liebe und Gelassenheit.
Ihre Psychiatrie – Erfahrung befähigt sie jetzt, durchs Land auf und ab zu reisen, um Vorträge zu halten. 2013 hat sie die EX-IN Ausbildung zur Genesungsbegleiterin gemacht.
Ein Arzt aus Belgien, der sich für die hoffnungslosen Fälle interessiert, hat ein Bild vom Baum ins Leben gerufen. Die Baumkrone steht für Tragen – Ertragen – Leiden.
Die Krone als Jammertal: Einsamkeit, Alleinsein, Arbeitsunfähigkeit, Armut, Existenzängste, diffuse Ängste, Gewalt, Abhängigkeit, Kraftlosigkeit, Scham, Verzweiflung.
Eine zu große Baumkrone ist sehr anfällig, da diese dem Wind eine große Angriffsfläche bietet.
Woraus besteht die Krone der „Profis“? Raum geben können – Zeitschlucker: Wirkungskontrolle, Protokollieren, Ziele erarbeiten. Zu wenig Personal – „falscher“ Patientenschlüssel. Schubladendenken, Hierarchien – Kompetenzgerangel. Nicht Menschenorientierung, sondern Aktenorientierung. Die Einsicht als „Profi“, ich kann nichts bewegen – der „Profi“ ist zum Bewegen da. Druck: kein Fortschritt sichtbar, Stillstand der Genesung – und, oh Hilfe, Rückschritte der Genesung! Druck erzeugt Ungeduld, Hetze, Beschimpfung, (hoffentlich keine) Gewalt.
Durch zu viel Wind droht der Baum umgeworfen zu werden, wenn da nicht viele tiefe, feste Wurzeln wären. Wurzeln braucht es, um Halt zu bekommen in seinem Leiden. Wieder Halt zu bekommen durch innere Ziele, wie z.B. „Was wollte ich eigentlich einmal gerne werden?“. Die Zukunft geht bei einer unheilbaren Krankheit als Erstes verloren. Man hat Angst, Träume zuzulassen. Deshalb verabschiedet man sich lieber von ihnen. Wurzeln können sein: Zeit haben, Ruhe, Gelassenheit, Alternativen haben, Qualität durch Sicherheit, Vertrauen, Sich-einlassen-können auf eine andere Person. Skills-Liste/ Notfallkoffer erarbeiten, in die Natur gehen, soziale Aktivitäten – Kinobesuch, positive Erfahrungen machen usw..
Der Stamm steht für Flexibilität. Man sieht häufig an Straßenrändern die kleinen Bäume, die durch vier Pfähle geschützt und angebunden sind. Der Schutz ist paradox. Diese Hilfe schwächt den jungen Baum, da er viel zu schnell eine Krone bildet und dort seine Energie hineinfließen lässt. Er sollte aber seine Energie für die Wurzelbildung gebrauchen. Durch die gebildete Krone hat er viel zu wenig Wurzeln. Keine tiefen Wurzeln, um im Sturm stehen bleiben zu können.
Der Baum war plastisch in der Kreismitte und durch kleine Zettel entstanden Krone und Wurzeln. Wünsche der „Profis“ waren: Freude geben, miteinander Spaß haben, gemeinsam Lachen, trotz Hilfe Selbstbestimmung zulassen.
Die Veranstaltung verging wie im Fluge. Jeder war beteiligt und brachte sich ein. Zum Schluss durfte jeder Teilnehmer einen Zettel aus den „Wurzeln des Baumes“ mit nach Hause nehmen und viele hatten nicht „nur ihren Zettel“, sondern gingen mit Gewinn und Enthusiasmus.