Autor:in: Volker Althoff, Volker Brinkmann

2. Fachtag Psychiatrie

Eröffnet wurde die Veranstaltung von einer Ikone der Bremer Psychatriereform, Klaus Pramann.
Er wies auf die Historie dieser Bewegung, die schon vor ca. vierzig Jahren bei einer Demonstration in Bonn begann, hin. Progressive Kräften strebten damals an, eine Auflösung psychiatrischer Anstalten und Heime als „Stätten der Entrechtung und Entwürdigung“ aufzulösen. Doch es blieb lange Zeit bei diesem Vorsatz.

Auch das ZWIELICHT erlebte in der Berichterstattung Jahre der Trägheit. Tatsächlich ist spätestens seit dem letzten Jahr jedoch eine Aufbruchstimmung zu spüren, die auch bei dieser Tagung von nahezu allen Beteiligten verbreitet wurde – unter anderem von Anja Stahmann, Senatorin für Soziales, Integration und Sport. Sie unterstützt, wie letztlich alle Beteiligten des Fachtags, das seit der letzten Tagung überabeitete Konzept der „Neuen Psychiatrie im Bremer Westen“.
Frau Stahmann wies darauf hin, dass das Sozialressort an der Umsetzung des BTHG arbeite, welches besagt, dass Menschen mit Einschränkungen ein Recht auf volle und wirksame Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben haben. Frau Stahmann betonte ausdrücklich: „Diese Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben werden wir schaffen.“ Die Teilhabebedarfe würden Gesundheits- und Sozialressort mit einem gemeinsamen Instrument ermitteln, so Stahmann.

Katrin Lange verlas im Anschluss ein Grußwort der Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz, Claudia Bernhard. Frau Bernhard war an dem Fachtag leider verhindert. Aus dem Grußwort ging klar hervor, dass das Konzept der „Neuen Psychiatrie“ von der Senatorin voll mitgetragen wird. Das Konzept könne jedoch nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn die jeweiligen Regionen Bremens die Umsetzung sowohl gesellschaftlich, als auch institutionell mittragen würden. Dies gelinge nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung – vor allem auch durch die Zusammenarbeit mit den Gemeindepsychiatrischen Verbünden in den jeweiligen Stadtteilen.

Ulrich Wesseloh ging anschließend konkret darauf ein, wie der Arbeitskreis der „Neuen Psychiatrie“ im Anschluss an den letztjährigen Fachtag ihr Reformkonzept vorangetrieben hat. Drei Säulen wurden herausgearbeitet, die für die Verwirklichung des Konzeptes zentral sind:

  1.  Finanzierung: Welche Finanzierungsform braucht es, damit ein Projekt erfolgreich werden kann?
  2. Sozialraumorientierung: Bürgerbeteiligung (auch Angehörige) ist für die Umsetzung unabdingbar.
  3. Offener Dialog: Ermöglicht in seiner Haltung und seinen Instrumenten, eine gemeinsame Sprache zu finden – bei aller Unterschiedlichkeit.

Ermutigend sei, so Wesseloh, dass zwischen den verschiedenen Institution (ambulante Träger, Klinik etc.) mittlerweile nicht mehr die Gegensätze herausgestellt würden, sondern eher das Verbindende – durch regen Austausch und gemeinsame Erfahrungen.
Wesseloh ermutigte die Zuhörer:innen, sich am Arbeitskreis der „Neuen Psychiatrie“ zu beteiligen.
Die Veranstaltung wurde durch zwei Vorträge von Personen bereichert, die in ihren jeweiligen Institutionen Elemente einer Psychiatriereform umgesetzt haben, die für die Bremer Psychiatriereform vorbildhaft sein könnten.

Zunächst stellten Dr. Nadia Bustami und Anke Christophersen das Lüneburger Modell der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Lüneburg vor. Es handelt sich dabei um die Station E 64, die keine Betten enthält und 15 Behandlungsplätze zur Verfügung stellt. Die Behandlung geschieht bedürfnisangepasst vorrangig im gewohnten Umfeld und unter Einbindung des sozialen Netzwerkes der Patient:innen. Um die Versorgung psychisch kranker Menschen weiterzuentwickeln, soll in jedem Bundesland mindestens ein Modellvorhaben durchgeführt werden (§ 64 b SGB V). Die Modellprojekte leisten einen Beitrag zur Weiterentwicklung des neuen Psych-Entgeltsystems. In Lüneburg galt der Vertrag bisher nur mit der AOK Niedersachsen mit einer Laufzeit von 11 Jahren. Bis heute ist es das einzige Modellvorhaben in Niedersachsen.
Für die Aufnahme von Patient:innen gibt es folgende Voraussetzungen:

  • Eine vollstationäre Behandlungsindikation ist erforderlich
  • Alle Diagnosen unter Berücksichtigung von Ausschlusskriterien: Hohe Eigen- oder Fremdgefährdung, kein vorhandener Wohnraum, Erreichbarkeit nicht gegeben
  • Einverständnis der Patient:innen, dass die Behandlung hauptsächlich zu Hause stattfindet

Die vereinbarten Ziele bei diesem Behandlungskonzept sind:

  • Krisenbewältigung im Rahmen der psychischen Erkrankung
  • Behandlung von Patient:innen, die sich, bei vollstationärer Behandlungsindikation, nicht auf eine vollstationäre Aufnahme einlassen wollen oder können
  • Förderung des Funktionsniveaus (Aktivitäten des täglichen Lebens, Ressourcen)
  • Reduktion von Zwangsmaßnahmen (Unterbringungen, Isolierungen, Fixierung, Zwangsmedikation)

Folgende Behandlungsangebote stehen zur Verfügung:

  • Einbindung des außerklinischen Hilfesystems (Betreuer, Heime, Tages- und Begegnungsstätten etc.)
  • Die Bereiche Akutklinik, Eingliederungshilfe, nichtpsychiatrische Angebote und Pflege leisten, im Sinne und dem Wunsch des Patienten entsprechend kooperierend und vernetzt Unterstützung
  • Pharmakologische Behandlung
  • Visite in Form von Behandlungskonferenzen
  • Regelmäßige Hausbesuche
  • Erstellen eines Krisenplanes
  • Gruppenangebot – Gesprächsgruppe – Nutzung klinikinterner Gruppenangebote (SoKuZ, PIA) – Einbindung außerklinischer Gruppenangebote
  • Ergo- und Arbeitstherapie
  • Einzelgespräche

Im Anschluss an den Vortrag aus Lüneburg referierte Erika Schulz von der Brücke Schleswig-Holstein gGmbH zum Thema „Sozialraumorientierte psychiatrische Versorgung“. Sie sprach über Erfahrungen aus dem nordfriesischen Modellprojekt mit trägerübergreifendem Eingliederungshilfe(EGH)-Budget.
Ein Sozialraum ist laut des Handbuchs goes SGB IX „die Lebenswelt, in der wir leben, die Angebote an Institutionen und auch an Menschen, die uns zur Verfügung stehen und die wir nutzen“. Mit der Einführung der Sozialraumorientierten Eingliederungshilfe E am 1. Januar 2013 vollzog sich im Kreis Nordfriesland ein umfassender innovativer Strukturwandel. Grundlagen dafür sind neben gemeinsam vereinbarten strategischen Qualitätszielen ein verändertes, kooperatives Hilfeplanverfahren sowie ein verändertes Finanzierungssystem. Wichtigstes Ziel ist die stetige fachliche Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe im Kreis Nordfriesland in gemeinsamer Verantwortung des öffentlichen Leistungsträgers und der Leistungserbringer – trotz knapper werdender Mittel.
Sozialraum- und Ressourcenorientierung als fachliches Konzept besteht im Kern aus folgenden fünf Prinzipien:

  • Ausgangspunkt jeglicher Arbeit sind der Wille beziehungsweise die Interessen der Menschen (in Abgrenzung zu Wünschen oder gutgläubig definierten Bedarfen)
  • Aktivierende Unterstützung hat grundsätzlich Vorrang vor betreuender Tätigkeit
  • Bei der Gestaltung der Aktivitäten und Hilfen spielen personelle und sozialräumliche Ressourcen eine wesentliche Rolle
  • Aktivitäten sind immer zielgruppen- und bereichsübergreifend angelegt
  • Vernetzung und Integration der verschiedenen sozialen Dienste sind Grundlage für funktionierende Einzelhilfen

Es gibt drei Sozialräume im Kreis Nordfriesland: den Sozialraum Süd (767 Fälle), den Sozialraum Nord (476 Fälle) und den Sozialraum West (221 Fälle). Die Einteilung in drei Sozialräume erfolgte im Rahmen der Projektplanung im Jahr 2012. Für diese Aufteilung wurden die Fallzahlen der Eingliederungshilfe, das Einzugsgebiet der Leistungserbringenden und die zur Verfügung stehenden Personalressourcen berücksichtigt.
Diese Sozialräume sind als größere Einheiten zu betrachten, deren Gestaltung als gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten angesehen wird. Die persönlichen Lebenswelten mit den Ressourcen der Nutzenden sind entscheidend für das Unterstützungssetting und werden in den jeweiligen Einzelfällen betrachtet.

Ein bedeutender Impuls im Sinne der Bremer Psychiatriereform könnte von Dr. Martin Zinkler, der seit Anfang Juni Chefarzt in der Psychiatrie des Krankenhauses Bremen Ost, ausgehen.
Beim Fachtag verdeutlichte er anhand von Schaubildern, wie der Abbau stationärer Betten im KBO vorangetrieben wird und diese zunehmend in regionale Strukturen (Bremen-Süd, -West, -Ost, -Mitte) überführt werden, um eine wohnortnahe Hilfe anzubieten. Bis zum Jahr 2023 soll eine Versorgungsstruktur etabliert werden („Vision 2023“), die aus so genannten Regio-Teams besteht und folgende Komponenten beinhaltet:

  • Regio-Station
  • Regio-Tagesklinik: nicht diagnosespezifisch, immer aufnahmebereit
  • Regio-Ambulanz: Psychiatrische Institutsambulanz, Sozialpsychiatrischer Dienst, BravO
    Herr Dr. Zinkler bezog sich in seinem Vortrag immer wieder auf die Psychiatriereform in Triest, die auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorbildhaft bei der Umsetzung von Reformen im psychiatrischen Bereich angesehen wird. Das Konzeptpapier der „Neuen Psychiatrie im Bremer Westen“ würde den Vorstellungen der WHO schon sehr nahe kommen, so Dr. Zinkler.

Der Fachtag wurde mit einer lebhaften Diskussionsrunde abgerundet, bei der die Zuhörer des Fachtags durch Fragestellungen und Kommentaren eingebunden wurden. Der „Offene Dialog“ wurde also hier noch mal konkret aufgegriffen.
Der zweite Fachtag Psychiatrie machte deutlich, dass die Psychiatriereform offenbar auf einem guten Weg ist. Dieser Tenor war jedenfalls deutlich zu vernehmen. Die Umsetzung scheint für alle Beteiligten eine große Herausforderung zu sein. Nach zähen Jahren scheinbar unüberbrückbarer Differenzen werden jetzt jedoch augenscheinlich die jeweiligen Stärken der Beteiligten genutzt.
Die Konsensbereitschaft könnte der entscheidende Baustein sein, um die jahrzehntealten Ziele der Psychiatriereform zu erreichen: Der Individualität eines psychisch erkrankten Menschen gerecht zu werden, ihn schon präventiv bei aufkommenden Krisen zur Seite stehen, ihm in Akutsituationen rasche Hilfe zukommen zu lassen – und ihn dort abzuholen, wo er ist: in seinem Lebensumfeld.
Bis es soweit ist, müssten jedoch noch, wie Ulrich Wesseloh betonte, „dicke Bretter gebohrt werden“.